Der französische Schriftsteller und Kunstkritiker Michel Ragon (1924 – 2020) befasste sich schon früh intensiv mit Kemenys Werk. Der Katalog, aus dem dieser Einleitungstext stammt, erschien 1960 – kurz bevor Kemeny den Auftrag für die Gestaltung des Foyers der Städtischen Bühnen erhielt.//
Kemeny ist von jeher ein sonderbarer, origineller Künstler und ein Aussenseiter gewesen. Er war mir anlässlich seiner Ausstellung in der Galerie Mai im Jahre 1950 aufgefallen. Diese Ausstellung war bereits merkwürdig durch die Tatsache, dass es sich um die Ausstellung eines Künstlerpaares handelte: Madeleine und Zoltan Kemeny. Am meisten jedoch beeindruckte die Tatsache, dass die beiden parallelen Werke eine Familienähnlichkeit aufwiesen und gleichzeitig grundlegend voneinander verschieden waren. Beide waren von dichterischer Inspiration und hatten Sinn für Suchen ausserhalb der übliche Wege, für unseren Trost für so viele Konformisten. Zoltan Kemeny war damals eigentlich kein Bildhauer. Aber war er ein Maler? Er trug bereits seine grundlegende Originalität zur Schau, die er im Laufe der Jahre noch vertiefen und die aus ihm jenen Künstler machen sollte, der weder Bildhauer noch Maler ist, aber etwas von beiden Techniken und beiden Disziplinen hat. Er war bereits ein Reliefmaler (oder, wenn man will, ein Bildhauer von erhabenen Bildern). Seine Bewunderung für Dubuffet und seine Freundschaft mit ihm führten ihn zu einem „Kunst-im-Rohzustand“-Geist. Und durch diesen Geist, durch diese Kollagen aus damals schmutzigen Materialien springt Kemeny durch den Spiegel.
Durch den Spiegel springen. Ich will damit sagen, dass man sich mit seiner Erziehung, seiner Vergangenheit, seinen Gewohnheiten auf den Weg macht, und wenn man versucht weiterzugehen, so rennt man gegen einen Spiegel, der zu einer Ausgangstür werden kann, wenn einem das Wunder gelingt, durch das Spiegelbild seines eigenen Bildes hindurchzugehen.
Betrachten wir einmal kurz Kemenys Vergangenheit. Wir erkennen dann, dass diese ihn in keiner Weise vorbestimmte, der aussergewöhnliche Künstler zu werden, den wir heute kennen. Vielleicht doch in seiner Kindheit oder als junger Mann. Aber findet der Mann von vierzig Jahren, dem es gelingt, durch den Spiegel zu springen, nicht meistens die vergessenen Tugenden seiner Jugend wieder?
ln einem Bergdorf in Transsylvanien, wo sein Vater Stationsvorsteher in einem ganz kleinen Bahnhof war, wurde Zoltan Kemeny im Jahre 1907 mitten im Lärm der Züge und des alten Eisens geboren. Zehn Jahre später war das Kind Gehilfe eines naiven Schildermalers geworden. Eigentlich hätte er lieber bei einem Porträtisten gearbeitet, aber der verlangte einen so hohen Preis, um einen Lehrling anzunehmen, dass ein Schildermaler ausreichend erschien. Und Zoltan Kemeny lernte wirklich viel bei diesem Dorfmaler, der seine Schilder à Ia Rousseau oder à Ia Vivin malte. Er rieb seine Farben auf Marmor, malte auf Blech, bereitete den Grund der Schilder vor. Als ihn der Meister zum ersten Male ein Motiv zeichnen liess, und zwar Würstchen, glaubte Zoltan Kemeny, dass er „es geschafft“ habe. Er veranstaltete sogar seine erste Ausstellung im Schaufenster seines Lehrherrn, der auf diesen Schüler sehr stolz war.
Aber da der Beruf eines Schildermalers keine grosse Zukunft zu versprechen schien, wurde das Kind mit vierzehn Jahren Tischlerlehrling. Am Tage war er Tischler – abends verwandelte er sich in einen Studenten. Mit siebenzehn Jahren hatte er Lust, Architekt zu werden. Das führte ihn an die Akademie der Künste in Budapest, an der er von seinem achtzehnten bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr Kunstgewerbe und Architektur und dann Malerei studierte.
An dieser Akademie der Künste, wo sein Lehrer ihm von den französischen Malern sprach, lernte er Frankreich lieben, und im Jahre, das das Ende seiner Studien sah, verliess er Ungarn und ging nach Paris. Er bleibt in Paris, bis ihn der Krieg vertreibt, das heisst von 1930 bis 1943. Aber was er an Malerei sah, enttäuschte ihn. Er kehrte entschlossen zur Architektur zurück, liess nur Zement und Glas gelten und zieht die Nacktheit einer Mauer dem Werke jedes Künstlers vor. Er machte in Paris Schmiedearbeiten und graviertes Glas und lancierte schliesslich mit seiner Frau ein Atelier für Modezeichnungen, das sie beide geradewegs dem Reichtum und dem gesellschaftlichen Erfolg entgegengeführt hätte, wenn der Krieg diese bürgerliche Zukunft nicht zerstört hätte.
Nachdem das Exil diese glänzende Laufbahn unterbrochen hatte, liess sich Kemeny in der Schweiz nieder, wo er als Modezeichner für eine Zeitung in Zürich arbeitete. Zoltan Kemeny könnte niemals César Birotteau in Paris sein. Fern von der künstlerischen Tätigkeit packt ihn die Sehnsucht nach der Malerei. Er fing noch einmal ganz von vorn an, und als er im Jahre 1945 in der Galerie Kleber seine erste Ausstellung in Paris veranstaltete, bestand diese aus naiv-surrealistischen Bildern, die ihm nur wenig Gehör verschafften.
Er schloss sich in Zürich in seine Einsamkeit ein, da sein Broterwerb ihn von den künstlerischen Kreisen fernhielt, wurde ihm vielleicht das Wagnis, alles nochmals aufs Spiels zu setzen, leichter. Zürich ist die Provinz, aber auch die Stadt die Joyce gewählt hat, um dort Ulysses zu schreiben. Zürich ist auch die Stadt, in der 1916 die Dada-Explosion geboren wurde. Zürich war damals mit intellektuellem Dynamit geladen. Die Spiegelgasse, die heute in Nummer 11 einen amerikanischen Kunstkritiker und seine internationale Zeitschrift für zeitgenössische Kunst beherbergt, hatte damals Lenin in Nummer 12 zum Mieter, während in Nummer 1 das Cabaret Voltaire von Hugo Ball – Arp, Sophie Täuber, Tzara, Janco, Hulsenbeck und andere zu seinen Stammgästen zählte.
Seither hat Zürich seine Ruhe wiedergefunden, an seinem See und in den Flanken seiner Berge. Aber wenn ich von dieser übrigens nahen Vergangenheit spreche, so weil ich glaube, dass Zoltan Kemeny, einsam in Zürich, dessen letzten Hauch dieses welken Parfums einzuatmen verstanden hat. ln seinem Werke liegt etwas vom Geiste Joyce’s und Dadas. Er ist ihr würdiger Erbe.
Zoltan Kemeny ist äusserlich ruhig und ordentlich, höflich, liebenswürdig. Der Gedanke, dass er nichts zu sagen habe in seiner Konversation und in seinem Leben keine Anekdoten für Journalisten zu finden sind, scheint ihm Sorgen zu machen. Da Kemenys erste Reliefs aus Lumpen, Leim und Sand jedoch schlaffe Gestalten, Venusse à Ia gidouille Ubu’s sind – muss man sich fragen, welch Trieb dem Modezeichner diese „Scheusslichkeiten“ eingegeben hat. Dieser Mann, der so normal scheint, geht heute hin und kauft sich Wagenkühler, und zum grössten Verblüffung des Fabrikanten lässt er sie in vier Teile zersägen, und dann zerfetzt und entstellt er sie.
Was für Werkzeuge hat dieser Maler? Betreten wir sein Atelier am Ende eines Gartens. Wir stolpern über Sauerstoffflaschen, eine Bohrmaschine, eine elektrische Säge, Material zum Schweissen, Säureflaschen, Farbtöpfe, Kupferbohrer, Aluminiumspäne, Blechplatten – das typische Atelier eines organisierten Bastlers, eines Sonntagsmechanikers.
Für Kemeny ist die Epoche der erstickenden Einsamkeit beendet. Zweifellos bedauert er das bisweilen. Aber er hat weder ohne Mühe noch ohne Opfer durch den Spiegel springen können. Vor der ersten Ausstellung seiner Metall-Reliefs in Paris bei Paul Facchetti im Mai 1955 bleibt sein Werk lange unbekannt. Er hatte sogar im Februar-März 1949 eine Ausstellung von Kleinwerken in ausgeschnittenem und getriebenem Metall über das Thema Der Gärtner in seiner Wohnung in Zürich veranstalten müssen. Aber es war trotzdem eine entscheidende Ausstellung, denn sie enthält bereits den ganzen Kemeny, sie erklärt, woher er kommt und wohin er gehen wird.
Warum dieses Thema vom Gärtner? Wegen der Schlussfolgerung im berühmten Märchen von Voltaire: „Gut gesagt“, antwortete Candide, „aber wir müssen unseren Garten pflegen“. Wie Candide war Kemeny damals durch eine Reihe von Missgeschicken gegangen. Diese in seiner Wohnung ein paar seltenen Besuchern gezeigten Werke waren das Ergebnis von drei Jahren Gartenpflege, die phantastische Ernte aus seinem geheimen Garten. Über die Primitiven, die Naiven, die Irren kam er zu seinem Schildermaler zurück. Sein Gärtner war eine Persönlichkeit, eine Art „Monsieur Plume“. Der Gärtner von seinen Freunden gesehen. Der Eisenschmied zeichnete ihn mit der Lötlampe auf Blech. Der Goldschmied machte sein Bildnis, indem er dem Kupfer Perlmutter beimischte. Der Erdarbeiterformte eine Statue aus Zement, Asphalt und Perlen. Der Maurer bearbeitete Ziegel. Der Glasarbeiter machte Mosaiken aus Glas. Der Tischler schnitzte Holz. Der Gärtner modellierte die Erde. Und der Steinmetz bearbeitete natürlich den Stein. Der Kurzwarenhändler bediente sich der Knöpfe, der Gipser des Gipses, der Klempner des Bleis. Sich so vieler Mittel zu bedienen, um sich zu malen, war für Kemeny wie die Katze, die sich die Nägel poliert. Eine Art, sich in Stimmung zu bringen. Als ob es gar nichts wäre, versuchte er so, sich der klassischen Materialien zu entledigen, die ihm für das Werk, das er unternehmen wollte, unwirksam erschienen. Gips, Erde, Kupfer, Zement, Eisendraht, Knöpfe, Blei, Erbsen, Raphia, Lumpen, Perlmutter, Holz – er stellt bereits eine ganze Liste von Materialien auf, mit denen er experimentiert. Er zögert noch bezüglich einer seinen Werken eigenen Terminologie. Er bezeichnet sie als „Reliefs, Statuen, Malereien“. Ein Jahr später kommt er nach Paris und stellt der meisten und einige jüngere Werke bei Mai aus; darunter befinden sich Persönlichkeiten vom Krautermann mit trockenen Gräsern und Korn, und Die Familie des Gärtners vom Kurzwarenhändler mit Teer, Knöpfen und Croquets.
Im heutigen Kemeny ist etwas vom Schildermaler, vom Tischler, vom Eisenschmied, vom Graveur und vom Architekten. Er besitzt, was so vielen Künstlern fehlt: eine menschliche Erfahrung ausserhalb der strikten Welt der Kunst.
Bevor Kemeny an die Schaffung eines seiner Reliefs geht, macht er viele kleine Zeichnungen. Dann überträgt er sie auf ein Blatt, das die Grösse des geplanten Bildes hat. Es handelt sich um einen genauen Plan mit Koordinaten. Vor Ausführung mit den Materialien, prüft er in seinen Metallkatalogen die zu machende Bestellung, definiert er Längen und Formen. Denn heute arbeitet Kemeny nicht mehr mit Schrot und Abfällen, sondern mit neuen, für seine Zwecke zugeschnittenen Materialien Und wäre es nur wegen des Kaufpreises – der Stoff seiner Bilder verlangt Voraussicht und keine allzu grosse Verschwendung. Aber es liegt auf der Hand, dass er sich im Laufe der Montage zum Improvisieren hinreissen lässt, denn das Relief verlangt andere Konzeptionen als die flache Zeichnung Diese Montage sieht die vorherige Ausführung von geschweissten Einzelteilen vor, die vor ihrer Befestigung auf ihrer Unterlage im Atelier sich kurios anhäufen und jeden freien Platz einnehmen. Das Metall wird erhitzt, um gebogen und gewunden zu werden, dann wird es gefärbt. Die meisten Reliefs von Kemeny wiegen, wenn sie fertig sind, zwischen dreissig und achtzig Kilo. Ihre Farbe geht von Grün zu Blau, von Grau zu Rohkupfergelb, von Rot zu Schwarz. Auf der Rückseite der Bilder zeugen hunderte von Schraubenmuttern von der Kompliziertheit und der Genauigkeit der Ausführung. Die Verwirklichung eines Reliefs ist von den ersten Skizzen bis zum Anziehen der letzten Schraube, nach Aufstellung des Planes, der Suche nach den Stoffen, der Herstellung der Einzelteile und deren Zusammenstellung auf der Unterlage aus Holz, eine sehr lange Arbeit, wie man sich denken kann. Daher verfertigt Zoltan Kemeny, obwohl er augenblicklich einen Gehilfen verwendet, nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Reliefs im Jahr. Diese „Bilder“ sind von erstaunlicher Mannigfaltigkeit. Einige erinnern an futuristische Architekturen. Flach auf den Bo-den gelegt werden sie zu märchenhaften Pfahlstädten auf verschiedenen Niveaus – zu von den Azteken verbesserten und von Marinetti korrigierten New Yorks.
Andere sind ganz aus Kupferzeichen hergestellt. Ich kenne eines, das er Hit-Hite nennt und das aus etwa hundert H’s besteht. Ein anderes besteht nur aus Nieten (es gibt viele Bilder von Kemeny über das Thema der Nieten). Ich sehe auch eine Serie von in Streifen geschnittenen Kühlern. Eine sonderbare Metamorphose: diese Kühler, diese Kühlerstücke werden, wenn sie zusammengesetzt sind, zu Waben eines Bienenkorbs. ln seiner gegenwärtigen Periode erliegt Kemeny überhaupt dem Morphologischen. Er nennt das seinen „Naturalismus“. Denn dieser Bildhauer gibt sich für einen Maler aus, und dieser Künstler, der unter die „Abstrakten“ eingereiht ist, bezeichnet sich als Naturalisten. Es ist nicht seine einzige Zweideutigkeit. Jedenfalls nehmen viele seiner Reliefs aus den Jahren 1958-1959 eine morphologische Haltung an: Waben, Zehen, Pilze, Brustkasten, Kräuter. Aber in der gleichen Periode verfolgt ihn das mechanische Bild (Broyeuse de Peur). Gewisse auf einer Tonunterlage festgemachte Metalle sind eher auf den Boden zu stellende Reliefs als an die Wand zu hängende Bilder. Aber es trifft zu, dass Kemenys Reliefs manchmal mehr Bild als Skulptur sind, und manchmal ist es umgekehrt. Einige sind wirklich Skulptur, und Kemeny denkt bisweilen an die Möglichkeiten seiner Kunst im eigentlichen Bereich der Bildhauerei. Aber noch bleibt er an der Schwelle stehen und träumt, übrigens in der Hauptsache von Bildern, die sich bewegen. Aber die sich bewegen, ohne sich zu wiederholen, ohne mechanisches Uhrwerk, nur aus einem Eigenleben heraus. Zum Beispiel mittels der Farbe. Gewisse morphologische Formen und der ewige Gedanke an Bewegung führen ihn bisweilen zu einem grossen Barock. Er leugnet das nicht. Er hätte gern Musikinstrumente gebaut, für die er komponieren und die er selbst spielen würde. Er denkt an die Eskimos, die Musikinstrumente aus einem menschlichen Schulterblatt herstellten und ihnen herzzerreissende Töne entlockten. Je stärker die Reliefs heraustreten, desto mehr nimmt Kemenys Kunst einen wahrhaft monumentalen Charakter an. Man stellt sich vor, welche Hilfe er der zeitgenössischen Architektur sein könnte. Welcher Architekt wird verstehen, dass Kemeny im Begriff ist, die Bas-Reliefs eines aus Stahl und Glas gebauten Parthenons unserer Zeit zu schaffen?
Kemenys Reliefs bilden eine sonderbare Symphonie aus Falzen, Höckern, Schluchten, Sternenregen in T-Form, Tränen aus roten Nägeln, rasiermesserscharfen Kupferwellen, halluzinierten Geometrien, Karten-Sammlungen unbekannter Planeten, beängstigenden Mineralisationen. ln seinem Buch Von den Bas-Reliefs zu den Heiligen Grotten hat Andre Malraux vom Doppelsinn der Reliefs gesprochen, halbwegs zwischen der Skulptur und der Malerei. Zoltan Kemeny hat die Tradition dieser doppelsinnigen Kunst wiederaufgenommen, aber ganz anders als Arp oder Moholy-Nagy.
Seine „Bilder“ (er nennt seine Reliefs niemals anders) lösen sich in beunruhigenden Erscheinungen aus dem Rahmen. Sie sind lauter Mauervorsprünge. Man sieht sie aufgehen, mit ihren schneidenden Gräten ihre wollüstigen Balkons und Vorsprünge überragen. Sie haben helle Stellen und Rundungen, sie gehaben sich wie Hebearme in einem Zahnwerk. Andere beginnen zu wachsen, zu reifen, wie Bäume Ringe an-zusetzen. Einige sind aus den Fugen geratene Steinvorsprünge. Andere die von Mallarme geworfenen Würfel. Er gibt seinen Reliefs Titel, und diese Titel sind an sich kleine poetische Perlen, die vor dem Werk ohne Gesicht nachdenklich stimmen. Er nennt ein mit Eisenspänen bepudertes Relief Tröpfchen-Unendlichkeit. Aber es gibt noch merkwürdigere: Freundschafts-Sucher, Gedankenhaut, Kleiner Abend am Morgen, Kleiner Tag am Abend, Vorort der Engel, Oktogon-Töne, Moralische Batterie, Himmleskräuter, Nervöse Blume.
Dieses Werk ist das Werk eines Dichters und eines Plastikers zugleich. Zwei Probleme beherrsch en es die übrjgens die Grundlage der Suche der seit etwa 1955 zu Tage getretenen Künstlerwelle sind: der Raum und die Strukturen. Dieser Raum wird bei Kemeny durch eine äusserst bewegliche Oberfläche mit unvorhergesehenen Rhythmen suggeriert. Es ist kein statischer Raum wie in der klassischen Kunst; sondern ein dynamischer Raum. Und die Strukturen haben Kemeny, seitdem er zur Malerei zurück gekehrt ist, nicht aufgehört zu beunruhigen. Denn er ist zu seinen Reliefs durch die Entwicklung eines Malers und nicht die eines Bildhauers gelangt. Zunächst hat er seine Reliefs mit Öl gemalt, dann mit Sand, Leim, Lumpen. Aber die Zerbrechlichkeit seiner Werke, ihr heikler Charakter haben ihn dazu gebracht, Metall zu verwenden. Zunächst Eisen und Kupfer. Heute Aluminium oder Aluminium und Kupfer. Jetzt beginnt er mit plastischem Material, das er bemalt.
Zoltan Kemeny ist ein geschickter Handwerker und gleichzeitig ein visionärer Künstler und denkt an Elektronik und Kybernetik, an alles, was die Entwicklung der Technik der Entwicklung der Kunst zu bringen vermag. Er bezeichnet sich als Naturalisten, etwa wie Jean-Jacques Rousseau sich als Naturalisten bezeichnete. Zur Zeit des Gärtners botanisierte Kemeny in den Feldern, heute sucht er in der Wissenschaft nach Beute. Geologie, Biologie und Metallographie begeistern ihn. Er spricht von Metallen wie von Lebewesen. Das im Mikroskop beobachtete Leben des Metalls entzückt ihn. Er sagt: „Das Eisen hat Herz, hat Nerven.“ Das Atmungssystem einer Pflanze kann dasselbe sein wie das Molekularsystem des Stahls. Es bestehen sonderbare Ähnlichkeiten zwischen einem Topf voller Mikroben und Metallmolekülen. Diese Analogien, dieser Doppelsinn interessieren ihn leidenschaftlich. Deswegen gelingt es ihm auch, uns durch den Doppelsinn seiner Kunst, die keiner anderen ähnlich ist, leidenschaftlich zu interessieren. Er findet, das XX. Jahrhundert sei das „gewaltigste aller Jahrhunderte“. Kemenys Lötlampe lässt genaue und geduldige Bilder erstehen. Man kann sagen, er habe mit der Schweisslampe gemalt wie andere mit dem Pinsel oder mit dem Messer. Es gibt nämlich kein Gesetz. Noch andere malen mit ihrer Hand, ihren Fingern, dem Pinselstiel, einem Besen oder mit den Utensilien eines Anstreichers oder auf andere ebenso ungewohnte Art. Kemeny malt mit der Warme. Das Instrument, das das Werk ausführt, bedingt häufig dessen Natur. Welcher Literaturkritiker wird auf den Gedanken kommen, ein Werk über den Einfluss der Schreibmaschine auf die Zeitgenössische Literatur zu schreiben? Man schreibt auf der Schreibmaschine nicht genauso wie mit einer Gänsefeder. Man kann auch nicht dasselbe mit einem Messer zum Auftragen der Farbe und einem chinesischen Pinsel ausdrücken. Auch nicht mit Kupferspänen und Ultramarinsaft. Kemenys Werk (und hier kommt wieder der ins Funktionelle verliebte Architekt zum Durchbruch) ist von den Materialien und den Werkzeugen, die er gebraucht hat, bedingt. Aber das Werk überwindet diese Stoffe, es beherrscht sie, es verpflanzt sie und geht durch das, was die Reliefs an „Seele“ enthalten, über sie hinaus (und hier trennt sich das Werk noch schärfer von den Nachkommen Moholy-Nagy’s und der Neo-Piastiker) Eine Austeilung von Kemeny ist voller Seelen. Voller packender, besitzergreifender, rührender Poesie. Man denkt an den Satz von Jean Cocteau: „Wissen Sie, mein Picasso – seit heute Morgen spricht er.“ Die Reliefs (aber es ist mir so unangenehm, diese Terminologie auf die „Dinge“, auf Kemenys Schöpfungen anzuwenden, dass wir lieber „die Kemenys“ sagen wollen) – bei denen ist man auch darauf gefasst, dass sie zu schreien, zu zwitschern, Blähungen loszulassen beginnen – was weiss ich! Jedenfalls sehen sie uns mit allen ihren Augen an. Sie beobachten uns. Wir sind plötzlich nicht mehr Betrachter, sondern werden betrachtet. Wie im Zoo vor dem Affenkäfig. Und wir werden verwirrt. Und diese Androiden ohne Gesicht werden nur noch beunruhigender. Wer ist lebendiger – sie oder wir? Bald gibt man dem Gefühl des Schwindels nach. Ist grosse Kunst denn nicht immer Zauberei? Und sucht der Liebhaber, der an den Wänden der Museen und Gallerien entlang schleicht, etwas anderes als den Vorzug, sich verhexen zu lassen ? …
Zoltan Kemeny / Einleitung von Michel Ragon. [Ins Deutsche übersetzt von Hans Jacob]
Editions du Griffon, Neuchâtel-Suisse, 1960.