Der langjährige Kulturdezerent der Stadt Frankfurt Main, Hilmar Hoffmann, schrieb 2013 zum 50-jährigen Jubiläum einen Rückblick auf die Entwicklung der Städtische Bühnen Frankfurt siet dem Kriegsende 1945.//
Das 50-jährige Jubiläum der Theaterdoppelanlage hat eine Vorgeschichte, eine Genese der Selbstfindung unserer Städtischen Bühnen. Denn das Frankfurter Theaterleben ist nicht erst mit der Einweihung dieses architektonischen Monstrums Theaterdoppelanlage erblüht. Gleich im ersten Jahr nach der wohl verhängnisvollsten Periode der deutschen Geschichte wurden in unserer zu 70 Prozent zerstörten Altstadt schon wieder Theater und Oper angeboten. In der Trostlosigkeit unserer Ruinenlandschaft lechzten die Menschen nach kulinarischer Entspannung und, wie Brecht es formulierte, nach Vergnügung, der »nobelsten Funktion des Theaters«. Außer ihrem Glücksverlangen wollten die auch metaphysisch obdachlos gewordenen Menschen vor allem aber Botschaften zur Neuorientierung und Lebenszuversicht hören.
Schauspieler und Opernsänger, Tänzer und Musiker hatte Toni Impekoven als erster Intendant der Nachkriegszeit schon im Herbst 1945 (!) zusammengetrommelt und ein erstaunlich erstklassiges Ensemble der ersten Stunde geformt. Im großen Saal der Frankfurter Börse wie auch in der Kleinen Komödie in Sachsenhausen brillierte Oscar Werner als Hamlet, und Paula Wessely beeindruckte in der Titelrolle von Henrik Ibsens DIE FRAU VOM MEER. Mit der ihm auf den Leib geschriebenen Rolle des Fliegergenerals Harras in DES TEUFELS GENERAL stieg 1947 auch Martin Held in Frankfurt wie eine Rakete am Theaterhimmel auf. Carl Zuckmayers Stück über das Schicksal des »Helden der Lüfte« Ernst Udet wurde mit über 3000 Vorstellungen das erfolgreichste Stück auf Deutschlands Nachkriegsbühnen. Autoren und Regisseure des Aufbruchs reüssierten damals noch ohne aufwendigen Budenzauber, sie vertrauten ihrer komödiantischen Natur und ihrem dramatischen Temperament und setzten auf die kathartische Wirkung der Sprache.
Im großen vorläufigen Asyl des Rundfunk-Sendesaals überzeugte gleich in der Spielzeit 1946 /47 Karl Heinz Stroux mit Eugene O’Neills stärkstem Stück TRAUER MUSS ELEKTRA TRAGEN, eine die Gemüter und Herzen aufwühlende theatralische Option auf Großstadtniveau verlieh dem antiken Stoff eine Aura der Zeitlosigkeit. In den Feuilletons wurde die Premiere in über 40 Zeitungen als exemplarisch für einen Neubeginn des Theaters in Westdeutschland gewürdigt. Impekovens Repertoire berücksichtigte besonders Stücke aus Frankreich, England und denUSA, die im Nazireich verboten waren. Gespielt wurde in der schon 1946 zum Kleinen Komödienhaus umgebauten Turnhalle in der Sachsenhäuser Veitstraße, wo Impekoven-Nachfolger Richard Weichert das Haus zum beliebten Spielort zu machen verstand. An die alte Tradition der Römerberg-Festspiele anknüpfend, wurde auch im Klostergarten der Karmeliter unter offenem Himmel Theater gespielt. Im Sommer 1946 inszenierte hier Robert Michael Hofmannsthals JEDERMANN mit deftigen Anspielungen an den Zeitgeist. Im Börsensaal brachte Fritz Rémond Thornton Wilders UNSERE KLEINE STADT mit ironischen Verweisen auf Frankfurt auf die Bühne.
Trotz Währungsreform und einer den Neubeginn begleitenden Euphorie trieben die städtischen Körperschaften noch ohne einen verantwortlichen Kulturdezernentenden Theaterbetrieb in eine schwere Krise. Ende 1948 wurde 150 Bühnenmitgliedern zum 31. August 1949 die Nichtverlängerung ihrer Bühnennormalverträge angekündigt. Gleichwohl wurden zwei Monate später zwei Millionen Mark in den Etat eingesetzt, um das kriegszerstörte Schauspielhaus aus dem Jahr 1902 wieder aufzubauen. Aber die Euphorie hatte nur kurze Beine. Aus dem Römer verbreitete die Hiobsbotschaft Entsetzen, dem Theater werde Ende August 1949 endgültig der Garaus gemacht; »die Sicherung der nackten Existenz unserer Mitbürger […], in erster Linie die Beschaffung von Wohnraum, die Wiederherstellung von Schulen, Krankenhäusern«, sei lebensnotwendiger als Investitionen in eine flüchtige Theaterkultur.
Jetzt schlug die Stunde der Kulturbürger, die ihr gewohntes Theaterbedürfnis einklagten, um in der Goethe-Stadt wieder ein lebenswerteres Leben zu führen. Dieser Anspruch generierte auch den entscheidenden Impuls, den bis heute wirksamen Patronatsverein zu gründen: Ja, verachtet mir die Bürger nicht, hatte schon Hans Sachs in den MEISTERSINGERN den Politikern mit auf den Weg gegeben. Bevor 1951 Harry Buckwitz nach Frankfurt kam und lange blieb, hatte bereits der kongeniale Heinz Hilpert als »Chefintendant« 1947 in der Stadt angeheuert, um bei den Städtischen Bühnen frischen Wind unter die Flügel des Neuanfangs zu blasen. Gleich mit seiner psychologisierenden Inszenierung von Abgründen der menschlichen Seele in DES TEUFELS GENERAL beglaubigte Hilpert sein Renommee als virtuoser Schauspielflüsterer. Mit Carl Zuckmayers zeitdiagnostischem Stück mit jener prinzipiellen Fragestellung, wem denn der Mensch zu gehorchen habe, dem eigenen Gewissen oder dem Soldateneid, hatte er dem Schrecken des Naziregimes exemplarischen Ausdruck verliehen.
Auch mit Thornton Wilders WIR SIND NOCH EINMAL DAVONGEKOMMEN blieb Hilpert den kollektiven Befindlichkeiten der Kriegsgeneration auf den Fersen. Hilpert wollte vor aller Welt dokumentieren, wie über das Medium Theater ein freier Geist durch das nun wieder demokratische Deutschland weht. Von ignoranten Stadtpolitikern kujoniert, stieg er tief enttäuscht im April 1948 vorzeitig aus dem Vertrag aus. In einer Stadt, deren banausisches Politikerpersonal über die Ästhetik obsiegen wollte, mochte er sich zu weiteren Konzessionen nicht korrumpieren lassen. Unter Impekoven, Weichert und Hilpert hatten sich in den ersten zwei, drei Jahren später berühmt gewordene Theaterleute engagieren lassen, um die Herzen der vom Krieg gebeutelten Frankfurter zu erwärmen und deren hedonistische Erwartungen zu befriedigen: Wolfgang Büttner, Julia Costa, Ellen Daub, Konrad Georg, Martin Held, Siegfried Lowitz, Richard Münch, Otto Rouvel oder Solveig Thomas. Sie bescherten einem auch kulturell ausgehungerten Publikum mit ihrer hohen Kunst unvergessliche Stunden. Auch die Oper ließ schon bald nach der Kapitulation wieder von sich hören. Musikdirektor Bruno Vondenhoff hatte Ende 1945 unter unzumutbaren Bedingungen bereits ein neues Orchester organisiert. Auch den geschrumpften traditionsreichen Cäcilien-Chor hatte er wiederbelebt. Damals mussten die Sänger noch Briketts oder Holzscheite zu den Proben mitbringen, damit ihre Stimmbänder nicht einfroren.
Sozusagen aus dem Nichts ging gleich die erste Opernpremiere TOSCA erfolgreich über die Bühne. Die Premiere am 26. September 1945 dirigierte Ljubo mir Romansky. Bevor er 1946 an die Staatsoper Wiesbaden wechselte, studierte er fünf Opern und Operetten ein, u. a. die FLEDERMAUS mit der damals noch unbekannten Christa Ludwig als Prinz Orlofsky. Er beherrschte die hohe Kunst, im Seichten der Operette nicht zu ertrinken. Für die erste offizielle Spielzeit 1945/46 machte Bruno Vondenhoff, ein Feuerkopf aus dem Geiste Beethovens, dessen FIDELIO am 9. Dezember auf den Nudelbrettern der Behelfsbühne im großen Börsensaal virtuos zum Ereignis. Mit der Neuinszenierung des FIDELIO feierte die Oper Befreiung aus politischer Unfreiheit, Befreiung aus Kriegsnotstand und von der Knechtschaft der eigenen Untätigkeit. Nach der Stunde Null bekam diese FIDELIO-Interpretation symbolische Bedeutung in ihrer gelungenen Reflexion über die jüngste deutsche Geschichte, über die heillose Verlassenheit des Menschen.
In dieser ersten Phase der Renaissance von Frankfurts Oper entdeckten die Menschen das Musiktheater als Surrogat des Glücks, das ihnen zwölf Jahre lang verweigert worden war. Vondenhoff hoffte, den Menschen mit seinem Repertoire zu vermitteln, was Hegel allgemeinästhetisch »das sinnliche Scheinen der Ideen« genannt hatte: FIDELIO mit der Idee der Freiheit oder TOSCA mit der negativen Idee des Verrats. Weil Bruno Vondenhoff die Oper nicht mit einer bürgerlichen »Erholungsstätte« (Adorno) verwechselte, machte er außer mit Klassik auch mit jenen Neutönern Furore, die sich von der Tonalität längst verabschiedet hatten: 1947 mit Paul Hindemiths MATHIS DER MALER, 1948 mit Heinrich Sutermeisters ROMEO UND JULIA, mit seiner furiosen Deutung von Arthur Honeggers JOHANNA AUF DEM SCHEITERHAUFEN und den Aufführungen von Gian Carlo Menottis DER KONSUL oder mit Ernst Křeneks DAS LEBEN DES OREST.
Letztere Oper überzeugte mit 40 Vorhängen bei der Premiere auch das Feuilleton. Vondenhoff setzte frühe Meilensteine auf dem langen Kärrnerweg bis zur erstmaligen Verleihung des Titels »Opernhaus des Jahres« im Jahr 1996. Vondenhoff gelang es sogar, keine Geringeren als Walter Felsenstein, Otto Schenk und Wieland Wagner als Regisseure ans Haus zu holen. Bayreuth-Erneuerer Wieland Wagner riss mit Verdis OTELLO das Publikum zu wahren Beifallsstürmen hin. Mit Christa Ludwig führte er Mendelssohns Oratorium ELIAS in den Erfolg. Mit ihrer zauberischen Aura schmetterten auch die berühmten Sängerinnen Agnes Giebel und Marga Höffgen ihre Arien in die akustischen Löcher der Provisorien, wo sie oft wie in einer Art Bermuda dreieck verhallten. Ohne Bruno Vondenhoffs energischen Einsatz wäre der Wiederaufbau des 1902 im Jugendstil erbauten Schauspielhauses, vorerst sowohl für die Zwecke des Musiktheaters als auch des Schauspiels, nicht so schnell gelungen. Das mit drei Rängen und 1450 Plätzen wiedererstandene Große Haus mit erhaltener historisch-schöner Frontfassade und domartiger Kuppel wurde am Tag vor Heiligabend 1951 unter der musikalischen Leitung von Bruno Vondenhoff mit DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG feierlich eröffnet. Nietzsche hatte nicht nur mit Blick auf die Partie des Beckmessers den Ausdruck »superlative Musik« für die MEISTERSINGER geprägt. Den Rezensionen zufolge bescherte Bruno Vondenhoff dem Publikum mit seinem LOHENGRIN ein Fest der Stimmen. Hausregisseur Werner Jacob reduzierte den schönen Sagenhelden aus Brabant zur schlichten Chiffre, die in der lichten A-Dur-Welt des Grals nach glücklichen Flitterwochen mit dem Hinweis »Nie sollst Du mich befragen« wieder von dannen zieht.
Der 1951 von Oberbürgermeister Walter Kolb engagierte neue Generalintendant Harry Buckwitz sollte Vondenhoff rasch den Laufpass geben, um mit dem berühmteren Georg Solti als neuem Opernchef das Ansehen der Stadt zu mehren. Walter Kolb würdigte Vondenhoff beim Abschied mit der abgenutzten Formel, er habe »sich um die Stadt verdient gemacht«. Ein viel zu schmales Wort für einen großen Künstler und Organisator der Wiederauferstehung unseres Musiktheaters. Über Höhen und Tiefen von Frankfurts Schauspiel, Musiktheater und Ballett haben die Autoren dieses Bandes eindrucksvoll ihr reiches Erfahrungspotenzial ausgebreitet. Ich beschränke meine Erinnerungen deshalb auf die politischen Aspekte des Theaters während meiner 20-jährigen Verantwortung für diesen Kernbereich Frankfurter Kulturpolitik.
Mitbestimmung im Schauspiel
Im ersten Gespräch mit dem neuen Oberbürgermeister Walter Möller, der mich 1970 aus Ober hausen nach Frankfurt an seine Seite holte, war die Einführung der Mitbestimmung im Schauspielhaus eines seiner Essentials für den neuen Kulturdezernenten. Es galt, die hierarchische Struktur, »Generalintendant « genannt, durch eine vom Magistrat abgesegnete Mitbestimmung zu ersetzen, die alle Fragen mitentscheidet, die bisher vom »General« ohne Mitwirkung des künstlerischen Personals autokratisch geregelt wurden: Spielplangestaltung, Besetzungen, Engagements und Nichtverlängerungen, Sonderurlaube usw. Statt eines alles entscheidenden Generalintendanten sollte ein Dreierdirektorium mehr Transparenz garantieren. Weil dieses Modell mit dem amtierenden »General « Ulrich Erfurth nicht zu realisieren war, musste ich gleich in der ersten Woche nach meiner Wahl ein
Gespräch mit Ulrich Erfurth führen. Sein Vertrag hätte sich sonst automatisch verlängert, und die Mitbestimmung wäre ad calendas graecas vertagt worden. Als ich Ulrich Erfurth mit der Entschlossenheit auch des Oberbürgermeisters das Ende seiner Dienstzeit verkündete, war sein Erschrecken größer als das des Papageno beim Anblick des Monostatos. Parallel mit der gleichzeitigen Entkoppelung von Oper und Schauspiel ging in Frankfurt die Aufkündigung der anachronistischen Machtvertikale einher. Für das Schauspiel wurde die Mitbestimmung per Magistratsbeschluss Gesetz wie für die Oper das abgemilderte »Mitwirkungsdekret«. Die Sänger wollten nicht, dass ein Kollektiv darüber entscheidet, ob die Stimmbänder eines Tenors bei der Stretta im 3. Akt des TROVATORE wackeln und sich in die Kopfstimme fl üchten oder ob ein Bass den basso profondo des Sarasto in den Orkus gurgeln sollte. Darüber sollte nach wie vor gefälligst allein der Chef entscheiden. Die Mitbestimmung im Schauspiel sollte keine Episode werden. Sie war als Zäsur des Aufbruchs für alle deutschen Theater mit Erfolg in Szene gesetzt worden, getreu der Maxime Brechts, dass »das moderne Theater […] nicht danach beurteilt werden [muss], wieweit es die Gewohnheiten des Publikums befriedigt, sondern danach, wieweit es sie verändert.« Die jetzt autonome Oper wurde künftig vom bisherigen Generalmusikdirektor Christoph von Dohnányi geleitet, das Schauspiel von einem Dreierdirektorium mit Peter Palitzsch, bis dahin Schauspieldirektoram Staatstheater Stuttgart. Fast das ganze Stuttgarter Ensemble, mit dem ich in der Landeshauptstadt viele Nächte lang Gespräche über die Modifikationen der Mitbestimmung geführt hatte, war mit Horst Laube, Hans Neuenfels und Niels-Peter Rudolph Peter Palitzsch an den Main gefolgt.
Von Erfurths Ensemble wurden nur jene sechs Schauspieler übernommen, die sich für die Mitbestimmung und für das Credo des Brecht-Schülers Palitzsch erwärmen ließen: »Der Gesellschaft muß klar sein, daß sie nicht dafür zahlt, daß wir sie verherrlichen, sondern daß wir einen demokratischen Prozeß aufrechterhalten, das heißt, alles bekämpfen, was zu Entdemokratisierung, zu Starre und Niveauschwundführen kann.« Als ewiger Pfadfi nder folgte Palitzsch unbeirrbar seiner Grundspur des Humanismus. Die ersten Proben aufs Exempel schienen die Notwendigkeit der Mitbestimmung zu beglaubigen: In Edward Bonds LEAR wurde in der Regie von Peter Palitzsch aus der Titelfigur nicht wie bei Shakespeare »jeder Zoll ein König«. Palitzsch hatte bei Bond ja nicht ein literarisch besseres Stück gefunden, sondern den zeitgemäßen Bezug. Oder: IM DICKICHT DER STÄDTE. Mit diesem wüsten dialektischen Lehrstück Brechts gegen das Kapital brachte Regisseur Klaus Michael Grüber die konservativ gestrickten Abonnenten gehörig in Rage. In dieser atemberaubenden Aufführung in der Kulisse von Eduardo Arroyo bestätigte das sich neu erfindende Schauspiel Frankfurt mit ästhetischen Mitteln seinen Auftrag, das sonst nicht Fassbare bewusst zu machen. In einer lauten Zeit machte Grüber Skandal – durch Stille.
Die radikalen Anfänge des mitbestimmten Theaters kosteten uns schließlich 4000 (!) Abonnenten. Gleichwohl hielt der Magistrat durch, schließlich waren die Feuilletons ausnahmslos auf unserer Seite. Der Neuanfang des Palitzsch-Teams ist dadurch zusätzlich erschwert worden, dass der Kämmerer knallhart die drastische Erhöhung der Eintrittspreise verfügte, ohne das mitbestimmende Ensemble vorher befragt zu haben. Schließlich wollte die neueMannschaft mit für jedermann erschwinglichen Preisen alle erreichen und nicht nur jene, die es sich schon immer leisten konnten. Das Ensemble protestierte einen Monat lang jeden Abend lautstark vor dem Vorhang. Der Casus kulminierte in dem demonstrativen Akt, dem Kulturdezernenten das Mitbestimmungspapier mit der Aufforderung vor die Füße zu knallen, sich »damit den Arsch abzuwischen «, denn das Papier sei ja »nicht erkämpft, sondern bloß geschenkt worden und deshalb wertlos « (Neuenfels).
Nach der Ära Palitzsch hat es im Schauspiel bis heute leider viele Stabwechsel gegeben, ein Dilemma, an dem die Kulturdezernenten nicht ganz schuldlos waren: Wilfried Minks und Johannes Schaaf (1980 / 81), Adolf Dresen (1981 – 1985), Günther Rühle (1985 – 1990), Hans Peter Doll (1990 /91), Peter Eschberg (1991 – 2001), Elisabeth Schweeger (2001 – 2009), Oliver Reese (seit 2009). Eine Phalanx höchst unterschiedlicher Temperamente, Stile und Intellektualitäten.
Petra Roth ernennt sich selbst zur Bühnendezernentin
Eine energische Petra Roth verordnete den StädtischenBühnen ein Ende des Kompetenzwirrwarrs. Am 24. Oktober 1996 entzog sie der Kulturdezernentin Linda Reisch kurzerhand die Kompetenz über den Kernbereich der Frankfurter Kultur: Das Kommando über Oper, Schauspiel, Kammerspiel, Ballett und das angehängte TAT übernahm sie als neue Bühnendezernentin höchstselbst, eine einmalig drakonische Konsequenz in der Geschichte der bundesdeutschen Theaterrepublik. Nein, die Kulturdezernentin ist aus Selbstachtung nicht zurückgetreten.
In der Chefetage gab es Querelen zwischen dem zum Geschäftsführenden Intendanten aufgestiegenen früheren Ballettgeschäftsführer Martin Steinhoff und Opernchef Sylvain Cambreling, der ihm mit seiner Machtfülle als eine Art Gottseibeiuns im Nacken saß; Letzterer gab zu Protokoll, er hätte nie in Frankfurt angeheuert, wäre er über die Fesseln dieser neuen Struktur vorher in Kenntnis gesetzt worden. Statt auf den »Brettern, die die Welt bedeuten«, fand die Entfesselung des Individuums hinter den Kulissen statt. Nachdem Cambreling entnervt einfach früher aus seinem Vertrag ausgeschieden war, erteilte er der Oberbürgermeisterin und der Kulturdezernentin striktes Hausverbot für seine Abschiedsvorstellung und die anschließende Fete. Das Satyrspiel war endgültig in eine Provinzposse abgeglitten,als die Kulturdezernentin den in prekäre Bedrängnis geratenen Bühnenintendanten die Anwaltskosten für ihre Mandate gegen ihren Arbeitgeber, den Magistrat von Frankfurt, in Höhe von exakt 243 000 Mark aus dem Steuersäckel zurückerstattete. Dieser im Parlament einmütig missbilligte Casus veranlasste die Oberbürgermeisterin, endgültig die Reißleine zu ziehen und die Dezernentin abwählen zu lassen, einstim mig quer durch alleFraktionen. Mozarts Librettist Lorenzo Da Ponte hätte dieses pointenreiche Stück nicht besser erfinden können.
Der Streit um Fassbinders DER MÜLL, DIE STADT UND DER TOD
Kein Frankfurter Theaterereignis hat die Gemüter mehr aufgewühlt und die Öffentlichkeit stärker polarisiert als die Inszenierung des Fassbinder-Stücks DER MÜLL, DIE STADT UND DER TOD im Jahr 1985. Zwei Sondersitzungen des Stadtparlaments und eine in der Jerusalemer Knesset haben den Streit in die politische Arena verlegt. Nachdem der Versuch des Alte-Oper-Managers, das brisante Stück mit Schauspielern des Hebbel-Theaters Berlin zu besetzen, im Aufsichtsrat gescheitert war, kündigte der neue Schauspielintendant Günther Rühle das Fassbinder-Stück im Spielplan seines Theaters an. Rühle wollte den »fatalen Verdacht« widerlegen, in der liberalen Paulskirchenstadt werde Zensur geübt. Nachdem ich bei den Proben in den Kammerspielen hospitiert hatte, konnte ich Rühle in seiner unbeirrbaren Konsequenz guten Gewissens den Rücken stärken und den Antisemitismusvorwurf aus eigener Anschauung Lügen strafen. Auch in dem einstündigen Dreiergespräch zwischen OB Walter Wallmann, Günther Rühle und Kulturdezernent konnte der Oberbürgermeister den Intendanten nicht bewegen, das Skandalon aus dem Spielplan zu nehmen. Gegenüber Wallmann beharrte auch der Dezernent auf Artikel 5 des Grundgesetzes mit dem ultimativen Satz, »eine Zensur findet nicht statt«.
Die Premiere des Fassbinder-Stücks am 31. Oktober 1985 hat nicht stattgefunden. Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde hatten mit Ignatz Bubis gewaltlos die Bühne besetzt, der Saal war mit 50 Gegnern des Stücks überbesetzt, die mit originalgetreu nachgedruckten Eintrittskarten Einlass gefunden hatten. Die Diskussion mit Befürwortern wie Daniel Cohn-Bendit und Mischa Brumlik war heftig bis aggressiv, lief aber auch ohne Mediator nie aus dem Ruder. Als der Uhrzeiger auf 24 Uhr rückte, frohlockte Regisseur Dietrich Hilsdorf in der letzten Reihe zu früh: »Jetzt wird gespielt.« Der Kulturdezernent in der ersten Reihe neben Intendant Rühle wandte sich in appellativem Ton ans Publikum: »Der Magistrat zieht hiermit das Hausrecht an sich und erklärt die Veranstaltung für beendet.« Ende der Vorstellung. Am 4. November 1985 setzte Intendant Rühle für die internationale Presse eine sogenannte Wiederholungsprobe an, die das Schauspiel Frankfurt von dem Vorwurf einer »antisemitischen Handlung « freisprechen sollte. Fast alle Feuilletons haben die Hilsdorf-Inszenierung vom Antisemitismusvorwurf entlastet.
VIELEN DANK, SIE WERDEN VON UNS HÖREN
Das Frankfurter Theater hat nach 1945 vom selbstverständlichen Recht der Theaterfreiheit heftigen Gebrauch zu machen gewusst. Das hat manchem Stadtverordneten oder auch dem einen oder anderen abonnierten Philister nicht immer nur gefallen. Zum Beispiel die Proteste des Palitzsch-Ensembles gleich bei seiner ersten Premiere, Edward Bonds LEAR, gegen die Erhöhung der Eintrittspreise damals noch durch den SPD-Magistrat, jeweils abends auf der Vorbühne, bevor der Vorhang hochging. Walter Wallmann hatte schon in den Wahlkampfwirren im Frühjahr 1977 gegen die Protestaktion der Mimen protestiert. Als zwei von Willy Brandts Radikalenerlass betroffene Lehrerinnen der Ernst-Reuter-Schule in der Nordweststadt wegen Kommunismusverdachts ihren Beam tenstatus verloren, entstand über Nacht die Kollektivarbeit VIELEN DANK, SIE WERDEN VON UNS HÖREN. Die Texte der Schauspieler enthielten Assoziationen zu Begründungen, mit denen im Dritten Reich auch den Vätern dieser beiden Lehrerinnen wegen DKP-Mitgliedschaft die Lehrerlaubnis entzogen worden war, zum Teil sogar mit analogen Text-Akkorden bis in die Interpunktion hinein.
Nachdem das in der Schulaula mehrfach öffentlich aufgeführte Stück die Besucherneugier im Norden der Stadt gestillt hatte, sollte VIELEN DANK, SIE WERDEN VON UNS HÖREN in den regulären Spielplan des Schauspielhauses aufgenommen werden. Als die CDU diese »mit Radikalen sympathisierende Aufführung « per Magistratsabschluss zu indizieren hoffte, konnte der Kulturdezernent diesen Zensurversuch mit Hilfe des Oberbürgermeisters verhindern. Das Ensemble wurde aber gebeten, jeweils eine anschließende Diskussion anzukündigen, damit jeder die Gelegenheit bekäme, seine Einwände »gegen diese Zumutung« (FDP) unmittelbar geltend zu machen. Jenseits der brisanten Aktualität war dieses zeitübergreifende Stück eines der Agitation gegen die Arroganz der Macht schlechthin.
Peter Palitzsch war es immer darum gegangen, Bedingungen dafür zu schaffen, dass wir mit den Mitteln des Theaters einen demokratischen Prozess aufrechterhalten, also alles bekämpfen, was zur Entdemokratisierung führen kann. Für Palitzsch war Aufklärung immer noch ein unvollendetes Projekt der Demokratie. Unter dieser Prämisse wollte das Ensemble nicht nur mit relevanten Stücken des Repertoires auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen seismografsch reagieren. Man wollte auch mit selbst verfassten Stücken gegen brisante demokratiefeindliche Ereignisse aktuell und spontan zu Felde ziehen. Auch diese handfeste politische Theater- Demonstration mit großer Resonanz in ausverkauften Vorstellungen schien nicht unbedingt geeignet, den Sympathiewert beim neuen Oberbürgermeister zu steigern. Gleichwohl mischte sich Walter Wallmann auch beim Theater, außer beim Fassbinder-Stück, nicht ein.
Wallmann wollte kein politisches Theater
Das Mitbestimmungstheater des Brecht-Schülers Peter Palitzsch irritierte Walter Wallmanns traditionellen Theaterbegriff sowohl ästhetisch als auch inhaltlich. Wallmann unterstellte Palitzsch, mit den Subventionen des Steuerzahlers die Welt verändern zu wollen. Der Asket der Bühne entsprach nicht den auf größere Opulenz gerichteten Erwartungen des Oberbürgermeisters und wurde in der damals noch grassierenden Linksphobie der CDU als Bedrohung empfunden. Palitzsch wollte aber nicht die Welt verändern; für ihn war Theater vielmehr ein Instrumentder Emanzipation und ein Ort der Freiheit. Der Respekt vor dem Individuum gehörte für ihn zum Erbeder Antike wie auch der Aufklärung. Als man für Palitzsch nach seinem Abgang die Goethe-Plakette beantragte, wurde diese Ehrung abgelehnt. Aus der politischen Perspektive Wallmanns war die Palitzsch-Bühne politisch vermintes Gelände.
Das Palitzsch-Nachfolgerduo Wilfried Minks und Johannes Schaaf fand der OB nicht nur auf Anhieb sympathisch, er konnte sich auch mit deren Vorliebe für ein vorwiegend klassisches Repertoire befreunden. Im Vollgefühl seiner neuen Gestaltungsmacht gab Wallmann auch der Umrüstung des Spielorts mit einer Millionen Mark teuren Hydraulik seinen Segen. Mit deren Hilfe ließ sich der Zuschauerraum per Knopfdruck in eine Bühne und diese in einen Zuschauerraum verwandeln. Für die Premiere dieses technisch aufwendigen Funktionstausches hatten die beiden Protagonisten Georg Büchners DANTONS TOD ausgewählt. Als hinter einem Gazevorhang hoch über der Bühne als Schatten riss ein überdimensionaler Penis zum Vollzug ansetzte, irritierte Walter Wallmann und seine Herzdame Margarethe mehr noch als das Corpus Delicti die fröhliche Reaktion der Premierengäste über das parodistische Element eines avancierten Spieltriebs. Nach dieser »Provokation unter der Gürtellinie« betrat Wallmann das Schauspielhaus erst wieder, als 1981 mit Adolf Dresen vom Wiener Burgtheater ein Intendant gewonnen wurde, der mit der Hydraulik auch die Grobreize der beiden Vorgänger zum à fonds perdu erklärte und bei demsich inszenatorische Willkür an klassischen Stücken in Grenzen hielt.
Wallmanns bald erlahmte Sympathie für Minks war aber auch der Tatsache geschuldet, dass dieser der Besetzung des Schauspielhauses durch Mitglieder der RAF freundlich zugewinkt hatte. Sein inzwischen mit ihm zerstrittener Partner Johannes Schaaf hatte zusammen mit dem Kulturdezernenten im Theater die Stellung gehalten. Der wintergemäß frierenden RAF-Nachhut öffnete Minks zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin Ulla Berkéwicz, immer wieder die Türen ins gut geheizte Theater innere, bis wir einfach die Heizung abschalteten und die Besatzer zum freiwilligen Rückzug bewegten. In Walter Wallmanns neun Jahren erlebte er vier verschiedene Theaterleitungen: Nach Peter Palitzsch und der vorzeitigen Auflösung des Vertrags des im Clinch liegenden Duos Minks / Schaaf hatten wir Adolf Dresen vom Wiener Burgtheater geholt. Der hielt es mit Arthur Miller, dass in einer schlechten Welt das Theater sich für den Ruf nach einer besseren zur Verfügung halten müsse. Nachdem Dresen wegen Krankheit vorzeitig ausgeschieden war, konnte als Nachfolger mit Günther Rühle ein Theaterkritiker von Rang gewonnen werden. Rühle verdankten wir auch das mutige Engagement von noch nicht abgestempelten Regietalenten wie Einar Schleef, Dietrich Hilsdorf oder Michael Gruner, die beileibe keine Chorknaben waren.
Der Opernbrand
Ein mit 50 000 Mark von den DDR-Behörden freigekaufter »Regimegegner« steckte am 12. November 1987 unsere Oper in Brand. Bei seiner Vernehmung entpuppte sich der Brandstifter statt als Regimegegner der DDR als notorischer Krimineller. Der Mann hatte Zugang in die Theaterdoppelanlagegesucht, weil er diese als eine »factory« identifiziert hatte. Er war durch ein nicht verschlossenes Kippfenster eingestiegen, in der Hoffnung, in einem der Spinde Stullen zu finden, »weil ich Hunger hatte«. Da es sich aber um Spinde von Orchestermusikern handelte, hatte er seinen knurrende Magen mit Partituren nicht stillen können. Schlicht aus Frust war der Hungerleider zum Brandstifter mutiert.
Als ich um vier Uhr früh den Tatort erreichte, fand ich den Komponisten John Cage verwirrt und verwaist am Bühneneingang auf seinen Koffern hocken. Just am Abend vorher hatte ich mit dem »Meister der Stille« im Restaurant Fundus über die Partitur zu seinem neuen Werk EUROPERAS 1 & 2 gesprochen. Feuerwehrmänner hatten den immer freundlich lächelnden Komponisten aus dem Opern-Etablissement für prominente Hausgäste aus dem dritten Stock an die frische Luft komplimentiert. In seiner Not auf eine neue Bleibe hoffend, fragte John Cage: »Wo ist Gary?« Mein Gott, Gary Bertini hatten wir ganz vergessen. Der ebenfalls sofort herbeigeeilte Oberbürgermeister ließ den Dirigenten mit seinem Dienstwagen aus Schwanheim zum Tatort holen.
Oberbürgermeister Wolfram Brück berief ad hoc einen Krisenstab ein, dem die Intendanten Günther Rühle und Gary Bertini, der Technische Direktor Max von Vequel, der Bühnengeschäftsführer Günter Hampel sowie die beiden Dezernenten für Kultur und für Bau angehörten, um erste Entscheidungen zu treffen. Schon nach einer Stunde war klar, die Oper würde ins Schauspiel umziehen, weil es dort einen verwaisten Orchestergraben gab. Ein altruistischer Günther Rühle war einverstanden, dass das Schauspiel Gastrecht im leer stehenden Bockenheimer Straßenbahndepot genießen würde, falls uns die Uni und das Land das denkmalgeschützte Depotüberließen. Dank des Elans des Baudezernenten Hans-Erhard Haverkamp war die neue Spielstätte innerhalb vonnur sieben Wochen spielreif umgerüstet. Mit einer genialen Regieleistung von Peter Palitzsch als Gast wurde mit Marlowes LEBEN EDWARDS DES ZWEITEN VON ENGLAND die Eröffnung einer heute nicht mehr wegzudenkenden neuen Bühne gefeiert. Schon bald konnten in diesem fantastischen Ambiente stilbewusste, extravagante Inszenierungen wie Bob Wilsons »wunderwirkliche Theaterwelt« (Stadelmaier) oder Einar Schleefs neu erfundener FAUST I bewundert werden.
Bereits wenige Tage nach dem Brand hatten sich eilfertige Investoren öffentlich mit dem Vorschlag zu Wort gemeldet, den »Luftraum« über dem Operngrundstück zu kaufen. Im Gegenzug versprachen sie, die Oper im unteren Bereich ihres geplanten Hochhauses auf ihre Kosten wiedererstehen zu lassen. Die Oper als buchstäbliche Untermieterin eines Büromonsters, welch entsetzlicher Gedanke! Außerdem hätte der Spiel betrieb sich um mindestens vier Jahre verzögert. Gegen diese Art merkantilen Eifers hatten wir es leicht, den Anfängen einer Subkulturalisierung zu wehren, zumal die Allianz-Versicherung die vollen Kosten des Wiederaufbaus zu übernehmen bereit war. 200 Millionen zahlte eine kulante Allianz für den Wiederaufbau des Opernhauses und damit auch für einen um zehn Meter aufgestockten Bühnenturm, in dessen Windschatten Eins-zu-eins-Probenräume sowohl für das Frankfurter Opern- und Museumsorchester als auch für das Forsythe-Tanztheater hinzu gewonnen wurden.
Erschienen in: Ein Haus für das Theater: 50 Jahre Städtische Bühnen Frankfurt am Main, Verlag Henschel, 2013