Obwohl 9 Jahre vergangen sind und etwa 8 Mio. Euro für die Planung ausgegeben wurden, gibt es kein Konzeptpapier, welches Ideen für das Stadttheater der Zukunft formuliert. Erst allmählich wurde im Verlauf des Prozesses die Diskussion begonnen, die an seinem Anfang hätte stehen müssen: Wie man sich das Zentrum des intellektuellen und künstlerischen Lebens, welches das Theatergebäude an diesem Ort darstellt, im 21. Jahrhundert vorzustellen hat. Die Entwicklung des Raumprogramms wurde der Unternehmensberatungsfirma M.O.O.CON übertragen, welche sonst vor allem Büroarbeitswelten und Firmensitze konzipiert und im Dialog mit den Städtischen Bühnen die grundlegende Nutzungskonzeption bereits 2017 festlegte. Während das Bestandsgebäude zur Disposition gestellt wird, soll der konzeptionelle Status quo für das Theater zukünftiger Generationen unreflektiert fortgesetzt werden, allenfalls mit quantitativen oder funktionalen Verbesserungen. Der Hauptfokus aller Untersuchungen damals wie jetzt lag auf Fragen von Kosten, Brandschutz, Logistik, Haus- und Bühnentechnik, Tragwerk und Arbeitsstättenrichtlinien. Zu diesem technokratisch anmutenden Vorgehen gesellte sich allein der politische Wunsch nach einem Leuchtturmprojekt, womit Kultur den Prämissen des Stadtmarketings unterworfen wird.
Wo also in Bezug auf die Architektur von einer Ignoranz gegenüber dem Bestehenden gesprochen werden muss, ist in Bezug auf die Theaterpraxis eine Ignoranz gegenüber Fragen nach dringend benötigten neuen Perspektiven zu konstatieren. Dabei wäre es gerade in Frankfurt, wo in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Theater neu und anders erfunden wurde und man sich nie einfach ans vermeintlich gute Alte klammerte, unbedingt notwendig, die Diskussion grundlegender zu führen: Ist es noch gerechtfertigt, eine einzige Kunstform gegenüber allen anderen derart zu privilegieren? Würde ein Stadttheater der Zukunft nicht viel eher der mit dieser Institution verbundenen Idee des 18. Jahrhunderts gerecht, wenn es zum Zentrum aller mit Öffentlichkeit verbundenen darstellenden Künste würde? Warum wird nicht – eine Idee Alexander Kluges aufgreifend – ein Neubau des Theaters mit dem ebenfalls anstehenden Neubau der Universitätsbibliothek verknüpft? Warum trennt man Theater baulich wie bei der Subventionierung von Popkultur und Literaturveranstaltungen ab? Müssten in Zeiten der Globalisierung und einer längst durch vielfältige Migrationen veränderten Gesellschaft, wie sie sich insbesondere in Frankfurt mit einem Anteil von Bürger*innen mit Migrationshintergrund zwischen 60 und 80 Prozent zeigt, nicht auch anderen Akteuren die Bühnen geöffnet werden? Weiter wäre die Frage zu stellen, ob Ensemble- und Repertoire-Theater heute noch zeitgemäße Formen der Führung einer solchen Institution sind und wie der Austausch des Hauses mit anderen Häusern im In- und Ausland vereinfacht und die Bühnen für Künstler aus dem globalen Süden geöffnet werden können.
Das Festhalten am Status quo wird am grotesken Umgang mit der Frage des Interims deutlich. Die Opernintendanz erwartet, im Interim den gegenwärtigen Spielbetrieb möglichst unverändert fortsetzen zu können. Um die Bühnenbilder des bestehenden Repertoires weiter unverändert nutzen zu können, bedarf es einer Drehbühne von 38,5 Meter Durchmessern, die in Kosten von € 70 Mio. für das Interim resultieren, welche wiederum von der Politik als nicht vertretbar gelten. Daraus folgt– bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten einhellig – die Auffassung: Es darf für die Oper kein Interim geben, deswegen muss die Oper auf einen neuen Standort umgesiedelt werden. Dass viele Operngebäude in den letzten Jahrzehnten erfolgreich saniert worden sind und es weltweit bislang kein Operninterim mit einer Drehbühne gegeben hat, ist den Frankfurter Politikern vermutlich nicht bekannt.
Textauszug aus „Die neuen Städtischen Bühnen Frankfurt – Ein Großprojekt ohne Konzept“ von Maren Harnack, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Oswalt und Carsten Ruhl als Initiatoren der Petition ‚Zukunft der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main‘ vom 16.4.2020