In Zürich wie in Frankfurt: „Große Würfe“ statt zeitgemäßer Ideen

Auch in Zürich gibt es zurzeit Pläne für den Umbau des städtischen Schauspielhauses, des „Pfauen“. Wie in Frankfurt übergeht die Stadtregierung den Denkmalwert dieser Bühne zugunsten eines „großen Wurfes“ – und zwar durch Entlassung aus dem Denkmalinventar. Die Zürcher Kunsthistorikerin Marion Wohlleben hat hierzu in der Zeitschrift Tec21 (Heft 13/14, 2020) einen Artikel publiziert, den wir hier vollständig wiedergeben.

Zürich, Schauspielhaus „Pfauen“. Blick von der Bühne in den Zuschauerraum.
Foto: Stadt Zürich, Juliet Haller

Erinnern oder vergessen?

von Marion Wohlleben

Das Zürcher Schauspielhaus, «der Pfauen», soll modernisiert, möglicherweise sogar abgebrochen werden. Was aber bleibt dann von der aussergewöhnlichen Geschichte, die sich hier zwischen 1933 und 1945 abgespielt hat?

Das Schauspielhaus Zürich gehört zu den renommierten deutschsprachigen Theatern. Sein Ruf als bedeutendes Uraufführungs- und Sprechtheater geht auf die 1930er-Jahre zurück und hängt unmittelbar mit dem Nationalsozialismus in Deutschland zusammen. Sein damaliger Direktor Ferdinand Rieser hatte zwar bereits zuvor Kontakte zu anderen deutschsprachigen Bühnen und pflegte den Austausch von Gastregisseuren und Schauspielerinnen. Aber mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933 und den rigorosen Kulturgesetzen, die sich vor allem gegen Juden und Kommunisten richteten, entstand eine nie dagewesene Dringlichkeit: Viele Verfolgte flohen in die angrenzende Schweiz oder blieben dort, um einer Verhaftung und Schlimmerem zu entgehen. Direktor Rieser, Schweizer und Jude, gelang es, vielen Geflüchteten einen Arbeitsvertrag und damit eine (vorübergehende) Aufenthaltsbewilligung zu verschaffen, die sie vor der Auslieferung bewahrte. So wurde die «Pfauenbühne» durch das Zusammenwirken damals beliebter und zum Teil berühmter Künstler buchstäblich über Nacht zu einer der begehrtesten und aussergewöhnlichsten Bühnen, auf der klassisches wie zeitgenössisches Theater auf hohem Niveau geboten wurde. Stand bis dahin eher leichtere Kost auf dem Programm, so setzten sich nun zeitkritische Stücke und Interpretationen klassischer Stoffe durch, meist mit Bezügen zum Nationalsozialismus.

Die Resonanz beim Zürcher Publikum war gemischt. Zustimmung und Unterstützung gab es seitens kulturell aufgeschlossener und politisch interessierter Bürger. Kritik richtete sich gegen das als einseitig empfundene Programm sowie die Überzahl nicht schweizerischer Autoren und Künstler. Proteste, bis zur Kampfansage an die offen antideutsche Ausrichtung, kamen von den einheimischen nationalsozialistischen Frontisten. Sie diffamierten den Direktor und das Ensemble, störten ihnen nicht genehme Vorstellungen und verunglimpften das «Judentheater».

Unter diesen Rahmenbedingungen entstand ein bedeutendes Kapitel deutschsprachiger Theatergeschichte, in dem Kunst und Politik nicht zu trennen sind. Die von dem hochkarätigen Ensemble dargebotenen Aufführungen wurden zu einem Brennpunkt gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzung mit Publikum, Presse und Behörden.

 Solche Debatten über die Bedeutung des politischen Theaters sind keineswegs Geschichte, sie werden auch heute geführt. Doch wo die Erinnerung verblasst oder verdrängt wird, muss an die besondere historische Dimension dieses Hauses und dieser Bühne erinnert werden. Sie ist es wert, in die kollektive Erinnerung zurückgeholt zu werden und das Bild von der Rolle der Schweiz mit neuen Erkenntnissen zu bereichern – oder auch fallweise zu korrigieren.

Eingebettet und wandelbar

Das Schauspielhaus ist in die Arealüberbauung am Heimplatz mit Hotel, Gasthof und Wohnungen von Chiodera & Tschudy integriert, die 1888 als repräsentativer Auftakt zu den neu zu erschliessenden südlichen Stadtgebieten (Kreis 7) nach dem Vorbild des Römerhofblocks angelegt wurde. Das Theater ist kein Solitärbau, es tritt in der Platzfassade allein durch das hohe Eingangsportal in Erscheinung. Der Zugang im reich gestalteten Mittelrisalit erfolgt durch ein säulenflankiertes, als Triumphbogen ausgebildetes Portal.

Zunächst ein Volkstheater, wurde es in zwei Etappen zum heutigen Theater umgestaltet. Unter Direktor Ferdinand Rieser unternahm Otto Pfleghard 1926 die Umbauten zum heutigen Schauspielhaus. Er erweiterte es unter anderem um ein Foyer im Stil des Neuen Bauens und um ein grösseres Bühnenhaus mit Drehbühne (auf der 1941 Brechts legendäre «Mutter Courage» mit Therese Giehse aufgeführt wurde). Der Innenraum wurde von 700 auf 980 Sitzplätze erweitert und erfuhr eine schlichte Neugestaltung der Raumschale in den traditionellen «Theaterfarben» Rot, Weiss und Gold, aber ohne den üblichen malerischen oder ornamentalen Schmuck. Die Stuckdecken der beiden früheren Ausstattungen sind unter der Decke erhalten geblieben.

Mehr als nur ein Bauwerk

Nun soll der Bau umfassend modernisiert werden, sogar ein Teilabbruch ist wegen technischer und räumlicher Defizite im Gespräch. Dagegen hat der Heimatschutz Rekurs ergriffen.

Denn das Schauspielhaus wurde zu Recht als Baudenkmal eingestuft, es erfüllt die Kriterien der besonderen historischen Bedeutung als ortsgebundenes Objekt mit geschichtlichem Zeugniswert. Dennoch wurde es vom Stadtrat aus dem Schutz entlassen. Anlässlich der Planungen sollte man sich erneut mit der aussergewöhnlichen Geschichte auseinandersetzen, die sich zwischen 1933 und 1945 hier abgespielt hat.1 Dies auch, weil im Unterschied zu anderen, für Exilanten wichtigen Orten wie der Buchhandlung Oprecht oder dem alten, heute stark verkleinerten Café Odéon, die an diese Zeit erinnern könnten, das Schauspielhaus noch da ist. Es ist sichtbar, begehbar, spürbar, erlebbar.

Mit der Erhaltung dieses Theaters, das trotz einiger baulicher Veränderungen substanziell überlebt hat, sichern wir einen der wenigen Zeugen, der in jenen Jahren «dabei war». Es ist ein authentischer Zeuge, der in seiner Materialität historische Gewissheit als Ort des Geschehens vermittelt. Das Wissen um die besonderen, einmaligen Umstände, denen diese Räume während zwölf Jahren eine Bühne boten, darum, was hier erlebt und erlitten wurde, lässt nicht unberührt. Die Aura des historischen Orts würde dem Neubau an gleicher Adresse fehlen und weiterem Geschichtsvergessen Vorschub leisten.

Lebendiger Zeitzeuge

Wie jedes hundertjährige und ältere Gebäude hat auch das Schauspielhaus eine dokumentierte Baubiografie, die seinen Gang durch die Geschichte belegt. Doch das Plädoyer für den Erhalt dieses Theaters bezieht sich in erster Linie auf seine überragende historische Bedeutung für Zürich und das deutschsprachige Theater insgesamt in den Jahren des Exils. Für ein Denkmal, das im Begriff beides, materielle Substanz und das Erinnern, vereinigt, ist das Kriterium der geschichtlichen Bedeutung konstitutiv. «Manchmal geht es mehr um den Erinnerungswert, weniger um den ästhetischen Wert eines Denkmalbestands», ist der Architekt Roger Diener überzeugt.2

Das schliesst notwendige Eingriffe zur Behebung von Mängeln und zur Verbesserung schlechter Zustände keineswegs aus. Ihre Art und ihr Umfang sind aber eine Frage des Masses und der Angemessenheit; sie sollten von Rücksicht und Respekt vor der Geschichte des Orts geprägt sein. Dem Abbruch und Neubau ist die Reparatur vorzuziehen. Sie schont Ressourcen und erfüllt das Gebot der nachhaltigen Entwicklung im Bauwesen.

Das massvolle, dem Ort und seinen Bedingungen angemessene Um- oder Weiterbauen liesse das Wesentliche, die historische Substanz des Schauspielhauses, bestehen. Es wäre die Ergänzung um eine weitere Schicht. Und was sich baulich in diesem Rahmen nicht umsetzen lässt, kann oft durch organisatorische Anpassungen kompensiert werden – dafür braucht es neue, auch unkonventionelle Ideen.

Seine erfolgreiche Bespielbarkeit hat dieses Haus trotz enger Verhältnisse in hundert Jahren mit international anerkannten Aufführungen vielfach bewiesen. Lebt nicht «zeitgemässes Regietheater», das so vielseitig sein dürfte wie seine Regisseure, zuallererst von der Qualität der Stoffe und der Schauspieler und nicht zuletzt auch davon, wie Inszenierungen auf das räumliche Angebot reagieren? Es ist nicht einzusehen, dass neue Regiekonzepte neue Theaterbauten brauchen. Noch immer können für besondere Inszenierungen ungewöhnliche Orte mit einer eigenen Atmosphäre gesucht werden – eine Fabrikhalle, ein leerer Kirchenraum oder ein Gewächshaus zum Beispiel. Der Schiffbau war im Jahr 2000 solch ein ungewöhnlicher Ort.

Seine (geringe) Grösse hat das Schauspielhaus mit vielen anderen Theatern gemein, wie zum Beispiel den Münchner Kammerspielen oder dem Wiener Hoftheater. Beide, um nur zwei zu nennen, sind nicht nur sehr erfolgreiche, sondern auch attraktive und überaus stimmungsvolle Häuser, deren Intimität und Publikumsnähe geschätzt werden.

Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt hatte seine Meinung gemacht: «Das Schauspielhaus ist gerade durch seine Unvollkommenheit ein vollkommenes Theater, und ich liebe es deshalb auch mehr als andere Häuser.» 3

Anmerkungen

1 Aktuell laufen Machbarkeitsstudien, die verschiedene Varianten der Modernisierung untersuchen sollen. Dafür wird das Pfauen-Gebäude teilweise aus dem Inventar der Denkmalpflege entlassen – falls Gemeinderat und Stimmvolk dem Umbauprojekt zustimmen.

2 Sabine von Fischer: «Was in Zürich geschah, ist nicht vergleichbar mit der Kritik in Berlin», Neue Zürcher Zeitung, 6.3.2020.

3 Ute Kröger, Peter Exinger: «In welchen Zeiten leben wir!», Das Schauspielhaus Zürich 1938–1998, Limmat Verlag, Zürich 1998.

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