Plädoyer für eine öffentliche Weiterbaukultur
Von Astrid Wuttke
Das Deutsche Architekturmuseum befindet sich derzeit in einem Interimsquartier am Ostbahnhof, in einem Bau von 1951, dem ersten Neckermann-Versandhaus und späteren Telekom-Gebäude. Auf dem Areal, eigentlich zum Abriss vorgesehen, lässt sich gerade Interessantes beobachten: Das äußerst robuste Gebäudeensemble eignet sich mit seinen loftartigen Flächen und großzügigen Raumhöhen für eine Vielzahl an Nutzungen. Die aktuelle Mieterstruktur ist vielfältig. Neben dem Museumsinterim gibt es hier eine bunte Mischung von Zwischennutzern, vom Start-up-Unternehmen bis zum Italienischen Generalkonsulat.
Das Areal rund um den Ostbahnhof am Danziger Platz soll in naher Zukunft eigentlich zu einem urbanen gemischtgenutzten Quartier entwickelt werden. Umso größer die Überraschung, als nun unmittelbar vor dieser Neuentwicklung das alte Bahnhofsgebäude, welches hier seit Jahrzehnten in einer Art Dornröschenschlaf auf bessere Zeiten gewartet hatte, kurzerhand abgerissen wurde. Damit ist ein wesentlicher Baustein, der Identität und Orientierung hätte bieten und zu einem attraktiven Mittelpunkt im neuen Stadtteil hätte werden können, unwiederbringlich verloren.
Dabei ist gerade in den letzten Jahren eigentlich das Verständnis gewachsen, welche enorme Bedeutung das Bauen im Zusammenhang mit Ressourceneffizienz und Klimagerechtigkeit hat. Vor diesem Hintergrund wird auch das Bauen im Bestand neu bewertet. Neben dem tatsächlichen Erhalt der sogenannten „Grauen Energie“, also der Energie, die in einem bereits vorhandenen Gebäude gespeichert und bei dessen Weiterverwendung nicht erneut aufgebracht werden muss, können qualitätvolle Weiterbauprojekte eine enorme Symbolkraft entwickeln und beispielgebend für zukünftige Entwicklungen sein. Der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten beschreibt dieses Phänomen in seinem 2019 herausgegebenen Positionspapier „Das Haus der Erde“. Für eine auch zukünftig noch lebenswerte Welt, so heißt es dort, „ist unsere Vorstellungskraft, unsere Phantasie zur Beantwortung der Frage, wie wir zukünftig leben wollen, von großer Bedeutung. Diese Zukunft gestalten wir jetzt. Eine Konzeption von Städten, Infrastrukturen, Wohnhäusern, Fabrikations- und Bürogebäuden entscheidet, ob Menschen ihr Leben besser in Einklang mit der Umwelt bringen können. Architekten und Stadtplaner sind Impulsgeber, und ihre gebauten Werke können Katalysatoren für ein Umdenken sein.“
Kulturcampus Bockenheim
Im Frankfurter Westen wird sich schon bald zeigen, wie ernst es den öffentlichen Akteurinnen und Akteuren mit der Umsetzung solch beispielgebender Projekte ist. Hier besteht durch den sukzessiven Wegzug der Goethe Universität vom Campus Bockenheim an andere Standorte die einmalige Chance, einen zentrumsnahen Stadtteil aus dem Bestand heraus und dennoch völlig neu zu gestalten. Seit über zehn Jahren gibt es für dieses „bedeutende städtebauliche Zukunftsprojekt für Frankfurt“ eine vielversprechende Überschrift: Kulturcampus. Die bisherigen Aktivitäten auf dem Areal haben allerdings lediglich zur Realisierung von privatwirtschaftlichen Investorenprojekten geführt. Die versprochenen Orte für alle, an denen kulturelle Nutzungen und urbane Vielfalt einander bereichern, sucht man noch vergebens.
Das heutige Erscheinungsbild des Unicampus Bockenheim basiert auf dem städtebaulichen Rahmenplan Ferdinand Kramers, der von 1952 bis 1964 Leiter des Universitätsbauamtes war und den Charakter der im Zweiten Weltkrieg größtenteils zerstörten Universität bis heute nachhaltig geprägt hat. 2003 bereits wurde ein städtebaulicher Wettbewerb durchgeführt, bei dem außer dem altehrwürdigen Senckenbergmuseum kein einziges Bestandsgebäude erhalten bleiben sollte. Auf Proteste von Bürgerinitiativen folgte eine Revision des prämierten Entwurfes sowie die Unterschutzstellung wesentlicher Einzelbauten durch die hessischen Denkmalbehörden.
Über diese Einzeldenkmale hinaus gibt es insbesondere zwei weitere Bestandsgebäude, die aktuell in der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion um die Zukunft des Bauens im Vordergrund stehen: Das Dondorf’sche Druckereigebäude, ein fünfgeschossiger Backsteinbau von 1890 sowie das Juridicum, eine prägnante Hochhausscheibe mit Bibliotheksanbau von 1967. Beide Gebäude verfügen durch ihre robusten Bauweisen, großzügigen Geschosshöhen und ihre Flexibilität in der Nutzung über strukturelle Qualitäten, die sie zu sehr erhaltenswerten Bauten machen, eine Um- und Weiternutzung also mehr als nahelegen.
Die Mechanismen, die hier greifen und in beiden Fällen zu Abrissentscheidungen geführt haben (die aktuell zwar in Frage stehen, allerdings noch längst nicht vom Tisch sind), sind symptomatisch in einer Stadt wie Frankfurt, in der sich auch die öffentliche Hand als Teil eines spekulativen Immobilienmarktes versteht, in dem kurzfristige Gewinninteressen Vorrang vor nachhaltigen gemeinwohlorientierten Entwicklungen haben.
Die Dondorf’sche Druckerei
Das Hessische Denkmalschutzgesetz definiert Kulturdenkmäler als „Sachen, Sachgesamtheiten und Sachteile einschließlich Grünanlagen, an deren Erhalt aus künstlerischen, wissenschaftlichen, technischen, geschichtlichen oder städtebaulichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht“. Den verantwortlichen Behörden erschien das ehemalige Druckereigebäude in der Abwägung aller Argumente nicht schutzwürdig genug. Gleichwohl gehört es ebenso wie das benachbarte Bockenheimer Depot seit 2006 zur „Route der Industriekultur Rhein-Main“.
Mit ihrer wechselvollen Geschichte ist die Dondorf’sche Druckerei ein identitätsstiftendes Bauwerk für den Stadtteil Bockenheim und darüber hinaus. Über 130 Jahre hinweg hat das Haus von der Druckmaschinenhalle bis zum Seminargebäude wechselnde Nutzungen aufgenommen. Vielfältige Zeitspuren von der Industriebaugeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zur Nachkriegsarchitektur mit ihren filigranen Fensterkonstruktionen bieten insbesondere für ein Institut, welches sich mit ästhetischen Fragestellungen beschäftigt, unmittelbares Anschauungsmaterial. Gerade im Kontrast zwischen Alt und Neu kann hier ein einzigartiges Ensemble an einem spannenden Ort entstehen.
Die Max-Planck-Gesellschaft hat 2018 einen Architekturwettbewerb zum Neubau des Instituts für empirische Ästhetik auf dem Areal ausgelobt. Wesentliche Bedingung des Wettbewerbsverfahrens war der Erhalt des alten Druckereigebäudes innerhalb der geplanten größeren Anlage. Der im Wettbewerb ausgezeichnete Siegerentwurf wurde insbesondere aufgrund der besonders gelungenen Integration des Altbaus ausgezeichnet: „Die spannungsvolle Vereinigung von Alt und Neu wird ästhetische Fragestellungen aufwerfen, Forschungsinhalte und Interdisziplinarität des Instituts reflektieren“, so die Wettbewerbsjury. Um so überraschender kam die Abrissentscheidung im Herbst vergangenen Jahres. Man habe sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, intensive Variantenbetrachtungen und Gutachten seien vorausgegangen, ein Erhalt sei nicht möglich. Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen:
So berichtete die FAZ bezüglich der Fassade, dass „70% der Substanz“ ausgetauscht werden müssten. Diese Formulierung ist missverständlich: Bei der Begutachtung der Fassade wurde festgestellt, dass 70% der Backstein-Fassadenfläche überarbeitet werden müssen. Das ist ein wesentlicher Unterschied. In den meisten Fällen müssen bei Gebäudesanierungen 100% der Fassadenfläche überarbeitet werden. Diese Art der missverständlichen Berichterstattung hat ihre Ursache in der oftmals (bewusst?) missverständlichen Präsentation des Planungsstandes. Um die Sanierungsbedürftigkeit des Mauerwerks zu illustrieren, wurde beispielsweise ein 25 cm tiefer Bohrkern präsentiert, aus dem sich ein etwa bis zur Hälfte dieses Bohrkerns reichender Sanierungsbedarf der Lagerfugen ablesen lässt. Dass die Wände 50 bis 60 cm dick, die Schäden im Verhältnis zur Wandstärke hier also deutlich geringer sind, blieb unerwähnt. Die seitens des Architektenteams und des Bauherrn beschriebene Einsturzgefahr dieser Wände ergibt sich dann, wenn man zuvor sämtliche Zwischendecken abbricht und nur die Außenwände stehenbleiben. Hohe Mauerwerkswände ohne horizontale aussteifende Bauteile fallen nun mal um. Es ginge auch anders: Bei Erhalt der Zwischendecken und entsprechender Brandschutzertüchtigung (gängiges Verfahren bei Sanierungsprojekten) erübrigen sich aufwändige Stützkonstruktionen. So ist es momentan leider (noch) nicht geplant. Entgegen dem vielfach bekundeten öffentlichen Interesse, für bestehende Gebäude, noch dazu von hoher architektonischer Qualität und nicht zuletzt auch aus Gründen klimagerechter Bauweisen, mit angemessenen Mitteln eine Weiternutzung zu ermöglichen, führen hier alle Gutachten scheinbar zwangsläufig zu einem Komplettabriss. Diese immer gleichen Phänomene hat die Bundesstiftung Baukultur im aktuellen Baukulturbericht 2022/23 “Neue Umbaukultur” sehr treffend beschrieben, verbunden mit dem Appell, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen und Umbau zum neuen Leitbild zu machen.
Das Juridicum
Das Juridicum, bei dem auch der konkrete Gebäudeentwurf auf Ferdinand Kramer zurückgeht, markiert den östlichen Rand des Universitätscampus Bockenheim. Ferdinand Kramers Bauten stehen für eine von Mies van der Rohe geprägte Moderne und sind Zeitzeugen der „Frankfurter Schule“.
Auch das Juridicum steht nicht unter Denkmalschutz, eignet sich mit seiner Betonskelett-Konstruktion, der vorgehängten und somit vergleichsweise leicht austauschbaren Fassade und den großzügigen Geschosshöhen jedoch hervorragend für eine Um- und Weiternutzung. 2022 hat das Frankfurter Architekturbüro schneider+schumacher auf eigene Initiative eine Studie veröffentlicht, die auch im Rahmen der Ausstellung „Nichts Neues. Besser Bauen mit Bestand“ im Deutschen Architekturmuseum gezeigt wurde. Die Studie ist eine Weiterentwicklung eines Wettbewerbsbeitrages zum „Kulturcampus Frankfurt Baufeld 12“ aus dem Jahr 2013. Zu diesem Zeitpunkt sollte das Juridicum spätestens 2017 abgerissen sein, im Ideenteil des Wettbewerbs sollten an seiner Stelle eigentlich neue Gebäude konzipiert werden. schneider+schumacher waren damals das einzige Büro, das von dieser Vorgabe abwich, was zu kontroversen Diskussionen im Preisgericht und schließlich doch zu einer Anerkennung im Wettbewerb führte.
Die vorhandenen 17.500 Quadratmeter Bruttogeschossfläche bieten viel Raum für Wohnen und Arbeiten. Dabei sind je nach Bedarf unterschiedliche Grundrisstypologien und Anordnungen möglich. Die Fassade, in den 1960er Jahren mit nicht zu öffnenden Fenstern und einem aus heutiger Sicht nicht mehr zeitgemäßen Verständnis von Haustechnik konzipiert, muss grundsätzlich überarbeitet werden, wobei aber mit unterschiedlichen Maßnahmen sinnvoll auf die aktuellen Anforderungen reagiert werden kann.
In der Studie wurde beispielhaft von einer Aufteilung von etwa zwei Dritteln für Wohnen zu einem Drittel für Büroflächen ausgegangen. Dies kann je nach Bedarf auch anders aufgeteilt werden. Halböffentliche Nutzungen in den unteren beiden Geschossen (Kita, Beratungsstellen, Stadtteilbüro, Sitz der Verwaltung eines „Zentrums der Künste“ oder Vergleichbares) könnten den Kulturcampus ergänzen und bereichern.
Aktuell wird durch den endgültigen Auszug aller universitären Einrichtungen erneut über die Zukunft des Gebäudes diskutiert. Dabei geht es ähnlich wie bei der Dondorf’schen Druckerei neben einer unglücklichen Gemengelage hinsichtlich der Besitzverhältnisse zwischen Stadt Frankfurt und Land Hessen aktuell auch mehr denn je um den grundsätzlichen Umgang mit Bestandsgebäuden, um die Bewahrung von grauer Energie und um ressourcenschonende Bauweisen. Und um die Vorbildfunktion des öffentlichen Bauherrn – ganz unabhängig ob Stadt oder Land.
Städtische Bühnen
Das derzeit größte umstrittene Projekt der Stadt Frankfurt befindet sich mitten im Zentrum. Hier gilt es, über die Zukunft der Städtischen Bühnen zu entscheiden. Zahlreiche Gutachten, Studien und Kostenprognosen führten letztlich zu dem Ergebnis, dass unabhängig von Neubau oder Weiterbau an einem oder zwei Standorten ein Milliardenprojekt bevorsteht, welches den städtischen Haushalt über mehr als ein Jahrzehnt lang prägen und herausfordern wird.
Auch hier ist aktuell der Abriss als die vermeintlich wirtschaftlichste Lösung bereits beschlossen, doch auch hier deutet sich ein Umdenken an. Die Mechanismen sind die gleichen wie bei Druckerei und Juridicum – mit dem Unterschied, dass der Foyerbau der Städtischen Bühnen mit der Wolkenskulptur des jüdischen Künstlers Zoltan Kemeny „die gesetzlichen Anforderungen an ein Kulturdenkmal erfüllt“, also denkmalgeschützt ist.
Oper und Schauspiel mit dem ikonischen Wolkenfoyer sind insgesamt ein herausragendes Beispiel für die Theaterbaugeschichte der Nachkriegszeit in Deutschland und damit von überregionaler Bedeutung. In der Denkmalbegründung wird der Foyerbau als „Zusammenfassung zweier zeitlich und gestalterisch unterschiedlicher Baukörper“ beschrieben. „Er verbindet zwei Häuser, die den einzigartigen Sonderfall einer historisch gewachsenen Doppelanlage bilden. Auf der einen Seite findet sich ein durch den Weltkrieg fragmentiertes und in der Nachkriegszeit modernisiertes Schauspielhaus (heute die Oper). Auf der anderen Seite entstand ein modernes Schauspielhaus in der Formensprache der 1960er Jahre.“
Im Fall der Städtischen Bühnen entscheidet allein die Stadt Frankfurt, wie es mit dem vorhandenen Bestand, seinem Denkmalwert und seiner grauen Energie weitergeht. Gerade der öffentliche Bauherr muss dringend seiner Vorbildrolle gerecht werden und gesamtgesellschaftlich sinnvolle Projekte realisieren. Es wird interessant sein zu sehen, wofür sich die Stadtverordneten dieses Mal entscheiden werden.
DIESER ARTIKEL IST ZUERST ERSCHIENEN IN DER PLANERIN 5_23
Astrid Wuttke, Jahrgang 1972, ist Architektin und Partnerin bei schneider+schumacher in Frankfurt am Main.
Ich schließe mich der Initiative Zukunft Städtische Bühnen Frankfurt an, das Juridicum, die Dondorfsche Druckerei und die Städtischen Bühnen nicht abzureißen, sondern ihre nutzbaren Strukturen zu erhalten und weiter zu bauen. Alle drei Gebäude sind wichtige identitätsstiftende architektonische Zeitzeugnisse. Sie zu erhalten und weiterzubauen bedeutet für mich Frankfurt umweltbewußt für die Zukunft zu erneuern.