Allzu durchsichtig: Aura und Bühnen

Leserbrief von Alfons Maria Arns, Frankfurt am Main, zum Beitrag von Michael Hierholzer „Die Aura und der Engel der Geschichte“, Reihe „Frankfurt, deine Meisterdenker“ (7): Benjamin, 28. September 2023 (S. 3 / Die Drei)

„So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.“ (J.W.v.Goethe, Torquato Tasso, II,1; 1790) – Es ist manchmal bizarr, was in den letzten Jahren in den Debatten um die Zukunft der Städtischen Bühnen Frankfurt alles an „Argumenten“ aufgefahren wurde und noch wird, um einen Abriss der bestehenden Theaterdoppelanlage zu rechtfertigen. Nun also als philosophischer Kronzeuge der laut Hierholzer „unkonventionellste Denker im Umkreis der Frankfurter Schule“ Walter Benjamin, dessen bekannteste Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936), ein Werk „von erstaunlicher Aktualität“, dafür auf durchsichtige Weise in Anspruch genommen wird. Mit dem zentralen Begriff der „Aura“ habe Benjamin nämlich – gewissermaßen avant la lettre – „ein gutes Argument für einen Neubau der Städtischen Bühnen“ geliefert, da „das Auratische im Zusammenspiel zwischen Kunst und Rezipienten (wirksam wird), eine Erfahrung, die es nur in der Unmittelbarkeit etwa eines Konzerthauses oder Theaterraums gibt“.

„In säkularen Zeiten“, so Hierholzer weiter, „sind Schauspiel und Oper Stätten für besondere, gleichsam kultische Erlebnisse, die entscheidend zum Menschsein, zum Bürgersein, zum städtischen und staatlichen Leben gehören und anderswo allenfalls als Surrogat zu haben sind.“ Es brauche also „im Sinn Benjamins auratische Orte, um die Gesellschaft zu stabilisieren“, woraus bei Hierholzer unversehens ein „Hauptargument“ wird, „wenn es um den Neubau der Städtischen Bühnen in Frankfurt geht“: „Dazu aber genügen keine Nischen, vielmehr braucht es große Architektur, wie sie schon die Griechen mit ihren Amphitheatern errichteten, (…).“

Abgesehen davon, dass alle früheren und heutigen Konzert-, Theater- und Opernhäuser „auratische Orte“ sind, fragt man sich, wieso der seit 60 Jahren bestehenden, künstlerisch produktiv genutzten und stadträumlich in positiver Weise wirksamen Theaterdoppelanlage am Willy-Brandt-Platz diese „auratische Kraft des Theaters“ nicht zugestanden wird, indem man zunächst ihre schiere Existenz verschweigt und sie dann sogar bereits sprachlich-gedanklich abgerissen und durch einen „Neubau“ ersetzt hat.

Hinter der Nichterwähnung der aktuell noch in vollem Betrieb befindlichen und mit Lobpreisungen überhäuften Bühnen steckt offenkundig auch das Vorurteil, dass es den Bauten der (Nachkriegs-)Moderne, errichtet im bewussten Gegensatz zum prunkvollen bürgerlichen Theaterbau des 19. Jahrhunderts, per definitionem an auratischer Aufladung ermangele. Also das, wonach man sich bei einem Neubau der Bühnen vermutlich sehnt als Neuauflage und bloße Fortschreibung klassisch-repräsentativer „großer Architektur“. Wie der Architekturhistoriker Frank Schmitz in seinen Studien zur Auratisierung von Theaterbauten der Nachkriegszeit, den „Spiel-Räumen der Demokratie“, unter dem Stichwort „Ästhetische Kirchen“ gezeigt hat, sind Stahl-Glas-Konstruktionen, wie etwa beim Frankfurter Wolkenfoyer, in ihrer Gleichzeitigkeit von Enthüllen und Verbergen aber durchaus wirksam in auratischer Hinsicht: „Bezogen auf die gläsernen Theaterfoyers, die ja mit ihrer häufig kubischen Form und der Aufständerung durchaus den Charakter einer Vitrine haben, ist damit Nähe und Ferne zugleich erzeugt, also erneut jenes Wechselspiel, das Walter Benjamin als konstitutiv für die Erzeugung von Aura bezeichnet hatte.“

Den „auratischen Ort“ also, den Hierholzer für die Zukunft fordert und an dem es seinen Worten nach „um Selbstvergewisserung und auch um Erinnerung geht, um die Erinnerung, was uns zu dem werden ließ, was wir sind, individuell und im sozialen Zusammenhang“ – genau den gibt es bereits in Gestalt der 1963 eröffneten Theaterdoppelanlage am früheren Theaterplatz, die natürlich in die Jahre gekommen ist und dringend einer Sanierung, Modernisierung und Erweiterung bedarf. Der Benjaminsche „Engel der Geschichte“ schaut eben zurück auf das, was war, während er gleichzeitig unaufhaltsam vom Sturm der Geschichte, Fortschritt genannt, nach vorne in die Zukunft getrieben wird.

(Dieser Beitrag ist die Langversion, in der FAZ ist eine gekürzte Version erschienen.)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert