Zoltan Kemeny – Eine Einführung

Der französische Schriftsteller und Kunstkritiker Michel Ragon (1924 – 2020) befasste sich schon früh intensiv mit Kemenys Werk. Der Katalog, aus dem dieser Einleitungstext stammt, erschien 1960 – kurz bevor Kemeny den Auftrag für die Gestaltung des Foyers der Städtischen Bühnen erhielt.//

Kemeny ist von jeher ein sonderbarer, origineller Künstler und ein Aussenseiter gewesen. Er war mir anlässlich seiner Ausstellung in der Galerie Mai im Jahre 1950 aufgefallen. Diese Ausstellung war bereits merkwürdig durch die Tatsache, dass es sich um die Ausstellung eines Künstlerpaares handelte: Madeleine und Zoltan Kemeny. Am meisten jedoch beeindruckte die Tatsache, dass die beiden parallelen Werke eine Familienähnlichkeit aufwiesen und gleichzeitig grundlegend voneinander verschieden waren. Beide waren von dichterischer Inspiration und hatten Sinn für Suchen ausserhalb der übliche Wege, für unseren Trost für so viele Konformisten. Zoltan Kemeny war damals eigentlich kein Bild­hauer. Aber war er ein Maler? Er trug bereits seine grundlegende Originalität zur Schau, die er im Laufe der Jahre noch vertiefen und die aus ihm jenen Künstler machen sollte, der weder Bildhauer noch Maler ist, aber etwas von beiden Techniken und beiden Disziplinen hat. Er war bereits ein Reliefmaler (oder, wenn man will, ein Bildhauer von erhabenen Bildern). Seine Bewunderung für Dubuffet und seine Freundschaft mit ihm führten ihn zu einem „Kunst-im-Rohzustand“-Geist. Und durch diesen Geist, durch diese Kollagen aus damals schmutzigen Materialien springt Kemeny durch den Spiegel.

Durch den Spiegel springen. Ich will damit sagen, dass man sich mit seiner Erziehung, seiner Ver­gangenheit, seinen Gewohnheiten auf den Weg macht, und wenn man versucht weiterzugehen, so rennt man gegen einen Spiegel, der zu einer Ausgangstür werden kann, wenn einem das Wunder gelingt, durch das Spiegelbild seines eigenen Bildes hindurchzugehen.

Betrachten wir einmal kurz Kemenys Vergangenheit. Wir erkennen dann, dass diese ihn in keiner Weise vorbestimmte, der aussergewöhnliche Künstler zu werden, den wir heute kennen. Vielleicht doch in seiner Kindheit oder als junger Mann. Aber findet der Mann von vierzig Jahren, dem es gelingt, durch den Spiegel zu springen, nicht meistens die vergessenen Tugenden seiner Jugend wieder?

ln einem Bergdorf in Transsylvanien, wo sein Vater Stationsvorsteher in einem ganz kleinen Bahnhof war, wurde Zoltan Kemeny im Jahre 1907 mitten im Lärm der Züge und des alten Eisens geboren. Zehn Jahre später war das Kind Gehilfe eines naiven Schildermalers geworden. Eigentlich hätte er lieber bei einem Porträtisten gearbeitet, aber der verlangte einen so hohen Preis, um einen Lehrling anzunehmen, dass ein Schildermaler ausreichend erschien. Und Zoltan Kemeny lernte wirklich viel bei diesem Dorfmaler, der seine Schilder à Ia Rousseau oder à Ia Vivin malte. Er rieb seine Farben auf Marmor, malte auf Blech, bereitete den Grund der Schilder vor. Als ihn der Meister zum ersten Male ein Motiv zeichnen liess, und zwar Würstchen, glaubte Zoltan Kemeny, dass er „es geschafft“ habe. Er veranstaltete sogar seine erste Ausstellung im Schaufenster seines Lehrherrn, der auf diesen Schüler sehr stolz war.

Aber da der Beruf eines Schildermalers keine grosse Zukunft zu versprechen schien, wurde das Kind mit vierzehn Jahren Tischlerlehrling. Am Tage war er Tischler – abends verwandelte er sich in einen Studenten. Mit siebenzehn Jahren hatte er Lust, Architekt zu werden. Das führte ihn an die Akademie der Künste in Budapest, an der er von seinem achtzehnten bis zu seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr Kunstgewerbe und Architektur und dann Malerei studierte.

An dieser Akademie der Künste, wo sein Lehrer ihm von den französischen Malern sprach, lernte er Frankreich lieben, und im Jahre, das das Ende seiner Studien sah, verliess er Ungarn und ging nach Paris. Er bleibt in Paris, bis ihn der Krieg vertreibt, das heisst von 1930 bis 1943. Aber was er an Malerei sah, enttäuschte ihn. Er kehrte entschlossen zur Architektur zurück, liess nur Zement und Glas gelten und zieht die Nacktheit einer Mauer dem Werke jedes Künstlers vor. Er machte in Paris Schmiedearbeiten und graviertes Glas und lancierte schliesslich mit seiner Frau ein Atelier für Modezeichnungen, das sie beide geradewegs dem Reichtum und dem gesellschaftlichen Erfolg entgegengeführt hätte, wenn der Krieg diese bürgerliche Zukunft nicht zerstört hätte.

Nachdem das Exil diese glänzende Laufbahn unterbrochen hatte, liess sich Kemeny in der Schweiz nieder, wo er als Modezeichner für eine Zeitung in Zürich arbeitete. Zoltan Kemeny könnte niemals César Birotteau in Paris sein. Fern von der künstlerischen Tätigkeit packt ihn die Sehnsucht nach der Malerei. Er fing noch einmal ganz von vorn an, und als er im Jahre 1945 in der Galerie Kleber seine erste Ausstellung in Paris veranstaltete, bestand diese aus naiv-surrealistischen Bildern, die ihm nur wenig Gehör verschafften.

Er schloss sich in Zürich in seine Einsamkeit ein, da sein Broterwerb ihn von den künstlerischen Kreisen fernhielt, wurde ihm vielleicht das Wagnis, alles nochmals aufs Spiels zu setzen, leichter. Zürich ist die Provinz, aber auch die Stadt die Joyce gewählt hat, um dort Ulysses zu schreiben. Zürich ist auch die Stadt, in der 1916 die Dada-Explosion geboren wurde. Zürich war damals mit intellektuellem Dynamit geladen. Die Spiegelgasse, die heute in Nummer 11 einen amerikanischen Kunstkritiker und seine internationale Zeitschrift für zeitgenössische Kunst beherbergt, hatte damals Lenin in Nummer 12 zum Mieter, während in Nummer 1 das Cabaret Voltaire von Hugo Ball – Arp, Sophie Täuber, Tzara, Janco, Hulsenbeck und andere zu seinen Stammgästen zählte.

Seither hat Zürich seine Ruhe wiedergefunden, an seinem See und in den Flanken seiner Berge. Aber wenn ich von dieser übrigens nahen Vergangenheit spreche, so weil ich glaube, dass Zoltan Kemeny, einsam in Zürich, dessen letzten Hauch dieses welken Parfums einzuatmen verstanden hat. ln seinem Werke liegt etwas vom Geiste Joyce’s und Dadas. Er ist ihr würdiger Erbe.

Zoltan Kemeny ist äusserlich ruhig und ordentlich, höflich, liebenswürdig. Der Gedanke, dass er nichts zu sagen habe in seiner Konversation und in seinem Leben keine Anekdoten für Journalisten zu finden sind, scheint ihm Sorgen zu machen. Da Kemenys erste Reliefs aus Lumpen, Leim und Sand jedoch schlaffe Gestalten, Venusse à Ia gidouille Ubu’s sind – muss man sich fragen, welch Trieb dem Modezeichner diese „Scheusslichkeiten“ eingegeben hat. Dieser Mann, der so normal scheint, geht heute hin und kauft sich Wagenkühler, und zum grössten Verblüffung des Fabrikanten lässt er sie in vier Teile zersägen, und dann zerfetzt und entstellt er sie.

Was für Werkzeuge hat dieser Maler? Betreten wir sein Atelier am Ende eines Gartens. Wir stolpern über Sauerstoffflaschen, eine Bohrmaschine, eine elektrische Säge, Material zum Schweissen, Säureflaschen, Farbtöpfe, Kupferbohrer, Aluminiumspäne, Blechplatten – das typische Atelier eines organisierten Bastlers, eines Sonntagsmechanikers.

Für Kemeny ist die Epoche der erstickenden Einsamkeit beendet. Zweifellos bedauert er das bisweilen. Aber er hat weder ohne Mühe noch ohne Opfer durch den Spiegel springen können. Vor der ersten Ausstellung seiner Metall-Reliefs in Paris bei Paul Facchetti im Mai 1955 bleibt sein Werk lange unbe­kannt. Er hatte sogar im Februar-März 1949 eine Ausstellung von Kleinwerken in ausgeschnittenem und getriebenem Metall über das Thema Der Gärtner in seiner Wohnung in Zürich veranstalten müssen. Aber es war trotzdem eine entscheidende Ausstellung, denn sie enthält bereits den ganzen Kemeny, sie erklärt, woher er kommt und wohin er gehen wird.

Warum dieses Thema vom Gärtner? Wegen der Schlussfolgerung im berühmten Märchen von Voltaire: „Gut gesagt“, antwortete Candide, „aber wir müssen unseren Garten pflegen“. Wie Candide war Kemeny damals durch eine Reihe von Missgeschicken gegangen. Diese in seiner Wohnung ein paar seltenen Besuchern gezeigten Werke waren das Ergebnis von drei Jahren Gartenpflege, die phantastische Ernte aus seinem geheimen Garten. Über die Primitiven, die Naiven, die Irren kam er zu seinem Schildermaler zurück. Sein Gärtner war eine Persönlichkeit, eine Art „Monsieur Plume“. Der Gärtner von seinen Freunden gesehen. Der Eisenschmied zeichnete ihn mit der Lötlampe auf Blech. Der Goldschmied machte sein Bildnis, indem er dem Kupfer Perlmutter beimischte. Der Erdarbeiterformte eine Statue aus Zement, Asphalt und Perlen. Der Maurer bearbeitete Ziegel. Der Glasarbeiter machte Mosaiken aus Glas. Der Tischler schnitzte Holz. Der Gärtner modellierte die Erde. Und der Steinmetz bearbeitete natürlich den Stein. Der Kurzwarenhändler bediente sich der Knöpfe, der Gipser des Gipses, der Klempner des Bleis. Sich so vieler Mittel zu bedienen, um sich zu malen, war für Kemeny wie die Katze, die sich die Nägel poliert. Eine Art, sich in Stimmung zu bringen. Als ob es gar nichts wäre, versuchte er so, sich der klassischen Materialien zu entledigen, die ihm für das Werk, das er unternehmen wollte, unwirksam erschienen. Gips, Erde, Kupfer, Zement, Eisendraht, Knöpfe, Blei, Erbsen, Raphia, Lumpen, Perlmutter, Holz – er stellt bereits eine ganze Liste von Materialien auf, mit denen er experimentiert. Er zögert noch bezüglich einer seinen Werken eigenen Terminologie. Er bezeichnet sie als „Reliefs, Statuen, Malereien“. Ein Jahr später kommt er nach Paris und stellt der meisten und einige jüngere Werke bei Mai aus; darunter befinden sich Persönlichkeiten vom Krautermann mit trockenen Gräsern und Korn, und Die Familie des Gärtners vom Kurzwarenhändler mit Teer, Knöpfen und Croquets.

Im heutigen Kemeny ist etwas vom Schildermaler, vom Tischler, vom Eisenschmied, vom Graveur und vom Architekten. Er besitzt, was so vielen Künstlern fehlt: eine menschliche Erfahrung ausserhalb der strikten Welt der Kunst.

Bevor Kemeny an die Schaffung eines seiner Reliefs geht, macht er viele kleine Zeichnungen. Dann überträgt er sie auf ein Blatt, das die Grösse des geplanten Bildes hat. Es handelt sich um einen genauen Plan mit Koordinaten. Vor Ausführung mit den Materialien, prüft er in seinen Metallkatalogen die zu machende Bestellung, definiert er Längen und Formen. Denn heute arbeitet Kemeny nicht mehr mit Schrot und Abfällen, sondern mit neuen, für seine Zwecke zugeschnittenen Materialien Und wäre es nur wegen des Kaufpreises – der Stoff seiner Bilder verlangt Voraussicht und keine allzu grosse Verschwendung. Aber es liegt auf der Hand, dass er sich im Laufe der Montage zum Improvisieren hinreissen lässt, denn das Relief verlangt andere Konzeptionen als die flache Zeichnung Diese Montage sieht die vorherige Ausführung von geschweissten Einzelteilen vor, die vor ihrer Befestigung auf ihrer Unterlage im Atelier sich kurios anhäufen und jeden freien Platz einnehmen. Das Metall wird erhitzt, um gebogen und gewunden zu werden, dann wird es gefärbt. Die meisten Reliefs von Kemeny wiegen, wenn sie fertig sind, zwischen dreissig und achtzig Kilo. Ihre Farbe geht von Grün zu Blau, von Grau zu Rohkupfergelb, von Rot zu Schwarz. Auf der Rückseite der Bilder zeugen hunderte von Schrauben­muttern von der Kompliziertheit und der Genauigkeit der Ausführung. Die Verwirklichung eines Reliefs ist von den ersten Skizzen bis zum Anziehen der letzten Schraube, nach Aufstellung des Planes, der Suche nach den Stoffen, der Herstellung der Einzelteile und deren Zusammenstellung auf der Unterlage aus Holz, eine sehr lange Arbeit, wie man sich denken kann. Daher verfertigt Zoltan Kemeny, obwohl er augenblicklich einen Gehilfen verwendet, nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Reliefs im Jahr. Diese „Bilder“ sind von erstaunlicher Mannigfaltigkeit. Einige erinnern an futuristische Architekturen. Flach auf den Bo-den gelegt werden sie zu märchenhaften Pfahlstädten auf verschiedenen Niveaus – zu von den Azteken verbesserten und von Marinetti korrigierten New Yorks.

Andere sind ganz aus Kupferzeichen hergestellt. Ich kenne eines, das er Hit-Hite nennt und das aus etwa hundert H’s besteht. Ein anderes besteht nur aus Nieten (es gibt viele Bilder von Kemeny über das Thema der Nieten). Ich sehe auch eine Serie von in Streifen geschnittenen Kühlern. Eine sonderbare Metamorphose: diese Kühler, diese Kühlerstücke werden, wenn sie zusammengesetzt sind, zu Waben eines Bienenkorbs. ln seiner gegenwärtigen Periode erliegt Kemeny überhaupt dem Morphologischen. Er nennt das seinen „Naturalismus“. Denn dieser Bildhauer gibt sich für einen Maler aus, und dieser Künstler, der unter die „Abstrakten“ eingereiht ist, bezeichnet sich als Naturalisten. Es ist nicht seine einzige Zweideutigkeit. Jedenfalls nehmen viele seiner Reliefs aus den Jahren 1958-1959 eine morphologische Haltung an: Waben, Zehen, Pilze, Brustkasten, Kräuter. Aber in der gleichen Periode verfolgt ihn das mechanische Bild (Broyeuse de Peur). Gewisse auf einer Tonunterlage festgemachte Metalle sind eher auf den Boden zu stellende Reliefs als an die Wand zu hängende Bilder. Aber es trifft zu, dass Kemenys Reliefs manchmal mehr Bild als Skulptur sind, und manchmal ist es umgekehrt. Einige sind wirklich Skulptur, und Kemeny denkt bisweilen an die Möglichkeiten seiner Kunst im eigentlichen Bereich der Bildhauerei. Aber noch bleibt er an der Schwelle stehen und träumt, übrigens in der Hauptsache von Bildern, die sich bewegen. Aber die sich bewegen, ohne sich zu wiederholen, ohne mechanisches Uhrwerk, nur aus einem Eigenleben heraus. Zum Beispiel mittels der Farbe. Gewisse morphologische Formen und der ewige Gedanke an Bewegung führen ihn bisweilen zu einem grossen Barock. Er leugnet das nicht. Er hätte gern Musikinstrumente gebaut, für die er komponieren und die er selbst spielen würde. Er denkt an die Eskimos, die Musikinstrumente aus einem menschlichen Schulterblatt herstellten und ihnen herzzerreissende Töne entlockten. Je stärker die Reliefs heraustreten, desto mehr nimmt Kemenys Kunst einen wahrhaft monumentalen Charakter an. Man stellt sich vor, welche Hilfe er der zeitgenössischen Architektur sein könnte. Welcher Architekt wird verstehen, dass Kemeny im Begriff ist, die Bas-Reliefs eines aus Stahl und Glas gebauten Parthenons unserer Zeit zu schaffen?

Kemenys Reliefs bilden eine sonderbare Symphonie aus Falzen, Höckern, Schluchten, Sternenregen in T-Form, Tränen aus roten Nägeln, rasiermesserscharfen Kupferwellen, halluzinierten Geometrien, Karten-Sammlungen unbekannter Planeten, beängstigenden Mineralisationen. ln seinem Buch Von den Bas-Reliefs zu den Heiligen Grotten hat Andre Malraux vom Doppelsinn der Reliefs gesprochen, halbwegs zwischen der Skulptur und der Malerei. Zoltan Kemeny hat die Tradition dieser doppelsinnigen Kunst wiederaufgenommen, aber ganz anders als Arp oder Moholy-Nagy.

Seine „Bilder“ (er nennt seine Reliefs niemals anders) lösen sich in beunruhigenden Erscheinungen aus dem Rahmen. Sie sind lauter Mauervorsprünge. Man sieht sie aufgehen, mit ihren schneidenden Gräten ihre wollüstigen Balkons und Vorsprünge überragen. Sie haben helle Stellen und Rundungen, sie gehaben sich wie Hebearme in einem Zahnwerk. Andere beginnen zu wachsen, zu reifen, wie Bäume Ringe an-zusetzen. Einige sind aus den Fugen geratene Steinvorsprünge. Andere die von Mallarme geworfenen Würfel. Er gibt seinen Reliefs Titel, und diese Titel sind an sich kleine poetische Perlen, die vor dem Werk ohne Gesicht nachdenklich stimmen. Er nennt ein mit Eisenspänen bepudertes Relief Tröpfchen-Unendlichkeit. Aber es gibt noch merkwürdigere: Freundschafts-Sucher, Gedankenhaut, Kleiner Abend am Morgen, Kleiner Tag am Abend, Vorort der Engel, Oktogon-Töne, Moralische Batterie, Himmleskräuter, Nervöse Blume.

Dieses Werk ist das Werk eines Dichters und eines Plastikers zugleich. Zwei Probleme beherrsch en es die übrjgens die Grundlage der Suche der seit etwa 1955 zu Tage getretenen Künstlerwelle sind:  der Raum und die Strukturen. Dieser Raum wird bei Kemeny durch eine äusserst bewegliche Oberfläche mit unvorhergesehenen Rhythmen suggeriert. Es ist kein statischer Raum wie in der klassischen Kunst; sondern ein dynamischer Raum. Und die Strukturen haben Kemeny, seitdem er zur Malerei zurück gekehrt ist, nicht aufgehört zu beunruhigen. Denn er ist zu seinen Reliefs durch die Entwicklung eines Malers und nicht die eines Bildhauers gelangt. Zunächst hat er seine Reliefs mit Öl gemalt, dann mit Sand, Leim, Lumpen. Aber die Zerbrechlichkeit seiner Werke, ihr heikler Charakter haben ihn dazu gebracht, Metall zu verwenden. Zunächst Eisen und Kupfer. Heute Aluminium oder Aluminium und Kupfer. Jetzt beginnt er mit plastischem Material, das er bemalt.

Zoltan Kemeny ist ein geschickter Handwerker und gleichzeitig ein visionärer Künstler und denkt an Elektronik und Kybernetik, an alles, was die Entwicklung der Technik der Entwicklung der Kunst zu bringen vermag. Er bezeichnet sich als Naturalisten, etwa wie Jean-Jacques Rousseau sich als Naturalisten bezeichnete. Zur Zeit des Gärtners botanisierte Kemeny in den Feldern, heute sucht er in der Wissenschaft nach Beute. Geologie, Biologie und Metallographie begeistern ihn. Er spricht von Metallen wie von Lebewesen. Das im Mikroskop beobachtete Leben des Metalls entzückt ihn. Er sagt: „Das Eisen hat Herz, hat Nerven.“ Das Atmungssystem einer Pflanze kann dasselbe sein wie das Molekularsystem des Stahls. Es bestehen sonderbare Ähnlichkeiten zwischen einem Topf voller Mikroben und Metallmolekülen. Diese Analogien, dieser Doppelsinn interessieren ihn leidenschaftlich. Deswegen gelingt es ihm auch, uns durch den Doppelsinn seiner Kunst, die keiner anderen ähnlich ist, leidenschaftlich zu interessieren. Er findet, das XX. Jahrhundert sei das „gewaltigste aller Jahrhunderte“. Kemenys Lötlampe lässt genaue und geduldige Bilder erstehen. Man kann sagen, er habe mit der Schweisslampe gemalt wie andere mit dem Pinsel oder mit dem Messer. Es gibt nämlich kein Gesetz. Noch andere malen mit ihrer Hand, ihren Fingern, dem Pinselstiel, einem Besen oder mit den Uten­silien eines Anstreichers oder auf andere ebenso ungewohnte Art. Kemeny malt mit der Warme. Das Instrument, das das Werk ausführt, bedingt häufig dessen Natur. Welcher Literaturkritiker wird auf den Gedanken kommen, ein Werk über den Einfluss der Schreibmaschine auf die Zeitgenössische Literatur zu schreiben? Man schreibt auf der Schreibmaschine nicht genauso wie mit einer Gänsefeder. Man kann auch nicht dasselbe mit einem Messer zum Auftragen der Farbe und einem chinesischen Pinsel ausdrücken. Auch nicht mit Kupferspänen und Ultramarinsaft. Kemenys Werk (und hier kommt wieder der ins Funktionelle verliebte Architekt zum Durchbruch) ist von den Materialien und den Werkzeugen, die er gebraucht hat, bedingt. Aber das Werk überwindet diese Stoffe, es beherrscht sie, es verpflanzt sie und geht durch das, was die Reliefs an „Seele“ enthalten, über sie hinaus (und hier trennt sich das Werk noch schärfer von den Nachkommen Moholy-Nagy’s und der Neo-Piastiker) Eine Austeilung von Kemeny ist voller Seelen. Voller packender, besitzergreifender, rührender Poesie. Man denkt an den Satz von Jean Cocteau: „Wissen Sie, mein Picasso – seit heute Morgen spricht er.“ Die Reliefs (aber es ist mir so unangenehm, diese Terminologie auf die „Dinge“, auf Kemenys Schöpfungen anzuwenden, dass wir lieber „die Kemenys“ sagen wollen) – bei denen ist man auch darauf gefasst, dass sie zu schreien, zu zwitschern, Blähungen loszulassen beginnen – was weiss ich! Jedenfalls sehen sie uns mit allen ihren Augen an. Sie beobachten uns. Wir sind plötzlich nicht mehr Betrachter, sondern werden betrachtet. Wie im Zoo vor dem Affenkäfig. Und wir werden verwirrt. Und diese Androiden ohne Gesicht werden nur noch beunruhigender. Wer ist lebendiger – sie oder wir? Bald gibt man dem Gefühl des Schwindels nach. Ist grosse Kunst denn nicht immer Zauberei? Und sucht der Liebhaber, der an den Wänden der Museen und Gallerien entlang schleicht, etwas anderes als den Vorzug, sich verhexen zu lassen ? …

Zoltan Kemeny / Einleitung von Michel Ragon. [Ins Deutsche übersetzt von Hans Jacob]

Editions du Griffon, Neuchâtel-Suisse, 1960.

Kemenys sculptures-peintures

Der Schweizer Kurator und langjährige Leiter des Kunstmuseums Winterthur, Dieter Schwarz, schrieb für den Katalog der Retrospektive zu Zoltan Kemenys Werk am Centre Pompidou Paris 2004 folgenden Essay, der hier erstmals auf Deutsch erscheint.//

Es ist vielleicht kein Zufall, dass eine neue Annäherung an Zoltan Kemeny über die in den Jahren seines Ruhmes vernachlässigten Arbeiten verläuft, nämlich über das malerische Frühwerk1 und über die Zeichnungen. Die Malereien und die Relief-Collages aus den vierziger und den frühen fünfziger Jahren wurden zwar zum Zeitpunkt ihrer Entstehung verschiedentlich ausgestellt, doch nachdem Kemeny mit seinen Metallreliefs bekannt wurde, schenkte man ihnen keine weitere Beachtung mehr; auch von Seiten des Künstlers ist kein Versuch auszumachen, diese Werke in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren weiterhin auszustellen.2 Die Zeichnungen wiederum galten offenbar als reine Vorarbeiten für die Reliefs und kaum als Werke, die für sich ein Interesse beanspruchen konnten. Selbst in den grossen Retrospektiven, die kurz nach Kemenys Tod stattfanden, wurde ihnen kein Platz eingeräumt,3 und erst in den letzten Jahren fanden einzelne kleinere Ausstellungen statt, die sich ganz diesem Bereich seines Werks widmeten.4 Es bleibt dahingestellt, ob dabei allgemeine Vorbehalte gegenüber “Bildhauerzeichnungen” mitspielten oder ob Kemeny selbst so zurückhaltend mit den Zeichnungen umging. Gewisse Überlegungen, die sich im Rückblick machen lassen und die im folgenden dargelegt werden, lassen sogar den Schluss zu, dass Kemeny die Präsentation der Reliefs absichtlich von den Zeichnungen trennte, ja dass er es eher vermied, den Reliefs Unterlagen zu ihrer Entstehung mitzugeben. Gerade an diesem “verdrängten” Material lassen sich jedoch Beobachtungen machen, die Kemenys Arbeitsweise in einem neuen Licht zeigen und die seinem Werk und seiner Position innerhalb der Nachkriegskunst eine andere Bedeutung geben.

Wurden die frühen Gemälde in der bisherigen Rezeption stets getrennt von den Metallreliefs betrachtet, so sollen die folgenden Betrachtungen gerade den engen Zusammenhang dieser Werkgruppen dokumentieren, wie er sich schon der ersten, äusserlichen Beobachtung darstellt. Kemenys Werk blieb in gewissem Sinn immer bildnerisch und wurde nie wirklich Skulptur, der Künstler betrachtete es ganz eigentlich als gattungsüberschreitend:“Aujourd’hui il n’y a pas de frontière entre les deux et ainsi mes travaux sont des ‘Sculptures-Peintures’.”5 Die Metallreliefs sind erweiterte Bilder und nicht plastisch konzipierte, räumlich definierte Werke. In der Übersetzung von bildnerischem Geschehen ins Dreidimensionale, schaffen sie nämlich nicht Raum, sondern sie verleihen bloss den dargestellten räumlichen Effekten Körper. Als Beispiel mag hier das Relief Fort âme6 dienen: die scharnierartig nach vorn oder hinten gekippten vertikalen Holzelemente nehmen ganz eigentlich das illusionistische Spiel mit dem Umschlagen von konvexer in konkave Wirkung auf, die in der kubistischen Malerei besonders von Juan Gris eingesetzt wurde (Abb. ..). In den Reliefs wird die Malerei in technoider oder romantisierender Weise verkleidet und ihre dramatische Wirkung mittels plastischer Elemente gesteigert, die über die dargestellte Räumlichkeit des an sich flächigen Bildes hinausgehen. In dieser Hinsicht stehen sie den Ausbildungen des Materialbildes nahe, in denen Farbe mit Sand, Gips und anderen Materialien vermengt wird. Maler wie Fautrier oder Bogart, später auch Tàpies, griffen auf die im kubistischen papier collé entwickelte taktile Differenzierung der Bildoberfläche, aber auch auf die opaken, antikompositionellen Bildgründe von Miró oder Masson zurück, um aus diesen Verfahren schliesslich erneut zu in sich geschlossenen Kompositionen zu gelangen, das heisst die kubistische und surrealistische Kritik am malerischen Illusionismus in einen neuen, vom Material unterstützten Illusionismus zu übertragen.

Sowohl die Malereien wie die Reliefs gehen auf Zeichnungen zurück, die Kemeny aufgrund verschiedenartiger Vorlagen angefertigt hatte. Die frühen Skizzenbücher, die erst vor kurzem zum Vorschein kamen,7 veranschaulichen deutlicher als jedes andere bisher zugängliche Dokument seine Arbeitsweise. Man muss hier daran erinnern, dass sowohl Zoltan wie Madeleine Kemeny ihr Leben während vieler Jahre mit professioneller Zeichenarbeit verdienten. Madeleine Kemeny, die seit Anfang der dreissiger Jahre als Malerin in Paris lebte, begann hier als Modezeichnerin zu arbeiten und setzte sich in diesem Metier auch durch. Als sie wenig später Zoltan Kemeny kennenlernte, führte sie ihn in die Technik ein, mit der sie beide so erfolgreich waren, dass sie sich 1942 dank professioneller Kontakte in der Schweiz niederlassen und hier arbeiten konnten. Kemeny fand bald eine feste Arbeit bei der Modezeitschrift Annabelle, wo er bis Ende der fünfziger Jahre als Gestalter und Berater tätig blieb.8 Das Skizzieren von beobachteten Besonderheiten, das Festhalten der wesentlichen Züge eines Modells und die sorgfältige Ausarbeitung bis zur Druckvorlage war den beiden geläufig; Madeleine Kemeny erinnerte sich an ihre Form der Arbeitsteilung, dass Kemeny jeweils die Figurinen zeichnete und sie dann die präzise Umsetzung besorgte.9

Es mögen Recherchen beruflicher Art gewesen sein, die Kemeny schon in Paris und später in Zürich in die Bibliotheken führten, wo er einschlägige Literatur durchsah. Die Literatur, die Kemeny konsultierte, bestand hauptsächlich aus Monographien zur Volkskunst, zu kunstgewerblichen Arbeiten aus den verschiedenen Weltkulturen. Es interessierten ihn mittelalterliche Buchmalerei ebenso wie asiatische Miniaturen und Ornamente, insbesondere aber die Gestaltungsmittel der Textilkunst, von nordischen Bildteppichen bis zu alten italienischen und französischen Spitzentechniken; dabei ging Kemeny äusserst systematisch vor und untersuchte diese Themen anhand von zahlreichen Monographien und Zeitschriftenartikeln. Bei der Fülle von Titeln aus den Bereichen der Volkskunst und der angewandten Kunst fällt das Fehlen von Publikationen zur bildenden Kunst im engeren Sinne besonders auf; so liessen sich bei der Durchsicht von Kemenys Titellisten nur gerade Monographien über Paul Klee und Henri Matisse und ein Werk über neuere französische Malerei ausmachen.10 Offensichtlich bevorzugte Kemeny für seine Recherchen die Bibliothek der Kunstgewerbeschule Zürich,11 doch er arbeitete auch in der Zürcher Zentralbibliothek und möglicherweise in anderen Bibliotheken.12 Textliche Exzerpte finden sich in seinen Heften keine; dagegen füllte Kemeny die Seiten mit Bildnotizen, denen er oft die entsprechende Buchsignatur zuordnete, so dass sie sich teilweise zurückverfolgen lassen. Meist geben die Skizzen die Konturen der ausgewählten Figuren oder Figurengruppen wieder; manchmal sind Binnenflächen mit Farbangaben beschriftet, als ob es um eine möglichst genaue Umsetzung der Vorlagen gehen sollte. Es scheint, dass Kemeny seine Skizzen direkt mit Bleistift auf die Leinwand übertrug und anschliessend farbig ausfüllte; jedenfalls sind keine weiteren Zeichnungen erhalten, die auf eine dazwischenliegende Verarbeitung schliessen lassen würden.

Unter den Bildern der Winterthurer Sammlung lässt sich dieses Vorgehen besonders deutlich an Dames et enfants13 ablesen; die Identifikation der Vorlage macht anschaulich, dass die Wahl der Wiedergabetechnik nicht einer beliebigen malerischen Idee folgte, sondern dass Kemeny mit den breit laufenden Farbbahnen den Effekt der Stickerei, die er als Vorlage ausgewählt hatte, zu imitieren versuchte. Allerdings konnte ein zeitgenössischer Betrachter diesen Herstellungsprozess nicht nachvollziehen; vielmehr stand er vor einer pseudoprimitivistischen Darstellung, die nur für sich selber zu sprechen schien, da sie einen stilistischen Zusammenhang mit den übrigen Bildern Kemenys fraglich erscheinen liess. Die sculptures-peintures bilden nämlich nicht einen homogenen Korpus, indem sie eine bestimmte Formensprache entwickeln, sondern sie übersetzen Bildvorlagen ihren Voraussetzungen entsprechend in Malerei. Die eklektische Auswahl der Vorlagen ist programmatisch, denn die Eigenheiten der kulturellen Artefakte, die Kemeny verwendete, wurden nur insoweit übernommen, als sie seine technische Virtuosität herausforderten. Dass es ihm dabei an Raffinesse nicht mangelte, erweist die Analyse der frühen Bilder:14 nach dem Verwischen der Spuren, die auf die Vorlage verweisen, scheint ein zweiter Prozess der Entstellung in Gang zu kommen. Die Malerei imitiert den Effekt der kunstgewerblichen Technik, beispielsweise der Spitzenstickerei, und lenkt gleichzeitig davon ab, indem sie ihre Quelle nicht preisgibt. Im selben Moment, da sie sich als Malerei in Szene setzt, verweist sie aber auf ihre Vorlage, denn sie ist weder, was sie darstellt, noch was sie zu sein vorgibt, weder naive Schilderung noch spontane Formulierung. Sie arbeitet im Gegenteil an einem Prozess der Distanzierung, der in einem der spärlichen schriftlichen Notate Kemenys ironisch artikuliert wird:“Weshalb nicht die Natur malen? Aber ja, ich male meine Natur. Alle Maler malen, um zu zeigen, wie man nicht malen darf.”15 Diese ironisch gebrochene Naturmetaphorik stand möglicherweise auch den zahlreichen Reliefs des Zyklus Le jardinier vu par ses amis16 Pate. Die Figur des Gärtners und die Pflege des Gartens liessen sich als Reflexion des Künstlers über den Umgang mit der von ihm kultivierten Bilderwelt, des von ihm recherchierten, kulturellen Bilderfundus als seines Gartens lesen.

Wenn Kemeny die Malerei als unablässiges Überschreiten gegebener Werte und Normen beschreibt, so könnte man ihn in dieser historischen Situation leicht als einen Vertreter der neo-primitivistischen Tendenzen sehen, die unmittelbar nach dem Krieg in der europäischen Malerei auftraten. In einer anderen kurzen Aufzeichnung schrieb er zudem:“Die europäische Kunst wird wie die Negerkunst, die chinesische Kunst, die Hindukunst usf. werden.”17 Es liessen sich dafür noch weitere Argumente finden: nach dem Krieg machten Madeleine und Zoltan Kemeny die Bekanntschaft Jean Dubuffets, der Madeleines Bilder 1948 im Foyer de l’Art brut ausstellte. Im Jahr darauf nahmen Madeleine und Zoltan Kemeny an der internationalen Cobra-Ausstellung im Amsterdamer Stedelijk Museum teil, womit sie ihre Fähigkeit bewiesen, über die Isolation der kriegsbedingt provinziellen schweizerischen Kunstwelt hinauszugelangen und mit Vertretern der internationalen Avantgarde in Kontakt zu treten.18 Doch diese Annäherung scheint Episode geblieben zu sein: weder beteiligte sich Kemeny an einer der programmatischen Publikationen der Epoche, noch scheint er sich überhaupt mit einer Gruppe oder einem Programm identifiziert zu haben. “Ich zeige, wie jedermann Malerei betreiben kann”,19 hielt er in einer anderen Notiz fest und zielte damit weder auf die malerische Kompetenz seiner Zeitgenossen noch diejenige des akulturellen Reservoirs der art brut, sondern auf die Bilderproduktion im allgemeinen. Kemenys Verfahren schliesst ein und nicht aus, und es verweigert sich den vereinfachenden Modellen, die von den genannten Künstlern nach dem Krieg als Programm einer “anderen” Kunst ins Feld geführt wurden. Wenn die art brut damit arbeitete, dass sie den Gegenpart des kulturell Tradierten für sich beanspruchte und damit einem simplen Dualismus verfiel, der in gewisser Weise die Struktur von Bretons Surrealismus reproduzierte, so akzeptierte Kemeny bildnerisches Material verschiedener – hoher oder niedriger – Herkunft ohne Unterschiede. Sein Nachmalen, das sich immer auf eine bestimmte Vorlage bezieht und das sich somit als zitierende oder imitierende Tätigkeit versteht, entzog sich ebenfalls der Hypostasierung einer ursprünglichen Kreativität, wie sie die Cobra-Künstler verschiedentlich formulierten.20 Wie hätte er diesen Weg auch einschlagen können, war doch seine Arbeit von einem anderen Phänomen affiziert, ob er sich nun bewusst darauf bezog oder, was viel wahrscheinlicher ist, nur unbewusst: es ist das Phantom des Ready-Made, das hinter Kemenys Suche im Bilderfundus lauert und das ihn auch während der Periode der Reliefs nie verlässt; das Ready- Made, das selbst dem Neo-Primitivismus und jeder anderen auf das Ursprüngliche zielenden Kunstpraktik als stummer Begleiter beiwohnt, geht es doch stets um die Wahl eines bereits vorgegebenen, noch nicht ästhetisierten Objekts.

Kemenys Arbeit führte nicht direkt von der Negation kultureller Werte in den Primitivismus als eine Möglichkeit, sich scheinbar ausserhalb der etablierten Kunstgeschichte zu bewegen; sie führte vielmehr von dieser einfachen Negation in eine fortwährende Negation, in die Ablehnung jeder fixierten Haltung. Er erreichte dies im Gewand humoristischer virtuoser Bilder und mit den Mitteln des handwerklich versierten graphischen Gestalters, wie sie in den ornamentalen Wiederholungen und Mustern sichtbar werden, mit denen die Bildfläche in den Malereien belegt ist. Als Kemeny 1964 kurz vor seinem Tod von der Verwandtschaft seiner Arbeit mit der ungarischen Volkskunst sprach, erwähnte er ihre strukturelle Analogie:“Ich bleibe ewig unter dem Einfluss der ungarischen Volksmusik. Ich hatte damals denselben Ehrgeiz in der Formulierung des Bildes (écriture du tableau) wie Béla Bartók beim Schreiben der Musik.”21 Es ist die “écriture du tableau” und nicht die Bildlichkeit an sich, die ihn beschäftigte, und das heisst die Art der Transformation einer gegebenen Vorlage im Hinblick auf das Hier und Jetzt, den Moment des Tätigseins:“Weder die Vergangenheit noch die Zukunft interessieren mich. Nur die Gegenwart. Heute möchte ich etwas verwirklichen, was ‘das Heute’ ausdrückt.”22 Wenn sich dieser Gedanke der Präsenz der Malerei oder der künstlerischen Arbeit überhaupt erfüllt hat, so vielleicht gerade in der brüsken Abfolge von Ruhm und Vergessen, der Aufmerksamkeit, die Kemeny begleitete und sich dann von ihm abwandte.

Ende der vierziger Jahre lässt sich in Kemenys Lektüre eine Veränderung feststellen: an die Stelle der kunstgewerblichen Literatur treten Monographien und Zeitschriften zur Mineralogie, zur Botanik, zur Optik, zu physikalischen oder anderen naturwissenschaftlichen Themen, und von der Kunstgewerbeschule wechselt er in die Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Doch nach demselben Vorgehen wie bei den Malereien kopierte Kemeny in seinen Skizzenbüchern Bilder, die ihm verwertbar erschienen, und die entsprechenden Literaturangaben. Diese Zeichnungen wurden im Verlauf des kommenden Jahrzehnts in Reliefs übertragen. Der Übergang von den Malereien zu den Reliefs ist also kein Bruch, sondern bloss eine Verlagerung des Bildmaterials, mit dem Kemeny arbeitete. Daraus lässt sich auch erklären, dass die äusseren Begrenzungen der Reliefs nicht aus den Eigenschaften des jeweils gewählten Materials abgeleitet sind. Vielmehr folgen sie den willkürlichen Begrenzungen, die das photographische oder mikroskopische Bild vorgab. Noch deutlicher wird jedoch hier, dass Kemeny bei der Planung der Reliefs ebenso vorging wie als Illustrator von Zeitschriften; ihm war das Arbeiten mit Transparentpapieren geläufig, die auf dem Leuchttisch kopiert und variiert werden konnten.23 Die ersten Skizzen hatten kleines Format; nach verschiedenen Überarbeitungen wurden die stets auf Transparentpapier ausgeführten Zeichnungen auf grössere Formate übertragen, bis hin zur endgültigen Vorzeichnung im Format 1:1. Aufgrund dieser letzten Zeichnung suchte Kemeny passende Metallformen oder liess diese eigens herstellen liess, um sie dann mit dem Schweissgerät auf der Unterlage zu montieren. Dabei folgte die Gestaltung der Reliefs präzise den Zeichnungen, besonders in den Details, die Kemeny notiert hatte; ebenso wie die sculptures-peintures ging auch dieser Typus von plastischen Bildern aus einer langwierigen Imitations- und Transformationsarbeit hervor. Wurde in der Malerei ein kleinformatiges Bildelement, eine einzelne Figur isoliert und in der Übertragung vergrössert, so entstanden mit den Metallreliefs Bilder nach manipulierten Vorlagen, die so, wie sie nun erschienen, nie existiert hatten.

Kemenys Zeichnungen aus den fünfziger Jahren ähneln in erstaunlicher Weise den abstrakten, postkubistischen Kompositionen, wie wir sie beispielsweise bei Nicolas de Staël oder Jean Bazaine finden, indem meist einzelne Elemente wie Linienverläufe, Schraffuren, Strichbündel und gezeichnete Formen wiederholt werden. Linien und Formen werden gestaffelt und erzeugen Strukturen, und es lässt sich bis in die einzelne Linie hinein beobachten, dass sie aus mehrfachen, stakkatoartig hintereinander gesetzten Strichen entstanden ist. Doch auch die grösseren Einheiten sind als Folge konzipiert, indem sie einander variieren und wieder zu neuen Gruppen zusammenfinden, locker auf der Fläche verteilt oder bereits in Reihen gegliedert. Für sich genommen scheinen diese Zeichnungen eine Art von reinem Zeichnen zu demonstrieren, indem jede zeichnerische Veränderung der Bildfläche durch den nachfolgenden Strich relativiert wird. So lässt sich scheinbar das Zeichnen als kontinuierlicher Vorgang beobachten – wäre es wirklich ein aus sich heraus erfolgendes Zeichnen und nicht ein Nach- und Weiterzeichnen, das stets auf eine Vorlage bezogen bleibt und diese endlich im Relief rekonstruiert. Die Nähe zur kompositorischen Sprache der École de Paris ist wohl keine zufällige, denn Kemeny wählte für seine Bilder nicht irgendwelche Formen aus, sondern solche, die dem Kunstverständnis der fünfziger Jahre entsprachen, so wie er zehn Jahre zuvor, noch mit geringerem Echo, seine Vorlagen auf die neofigurative Bildsprache der Nachkriegszeit abgestimmt hatte. Modezeichner und Illustrator, der er war, hatte er gelernt, sich in seinem Metier nach den gängigen Erscheinungsformen zu richten, wie man sie in Paris beobachtete, um sie in die Redaktion einer Schweizer Zeitschrift zu importieren. Dabei wäre es kurzsichtig, darin blossen Opportunismus zu sehen, strebte Kemeny doch nicht eine Karriere als virtuoser Illustrator an, sondern als avantgardistischer Künstler, wofür sein Zürcher Umfeld kaum Entfaltungsmöglichkeiten bot. Man könnte sein Vorgehen vielmehr als eine Praxis in Distanz zu den jeweils dominanten Ausdrucksformen beschreiben, die sich nicht der Polemik oder der kritischen Aggression bedient wie beispielsweise die französischen Décollagisten. Kemeny praktiziert dagegen eine Form der bildnerischen Rede, die man als Paraphrase bezeichnen könnte, da sie weniger sichtbar werden lässt oder sogar verhüllt, was ihn von seinen Zeitgenossen trennt.24 In der Argumentation seiner ersten Kritiker wird immer wieder das Bemühen deutlich, Kemenys Arbeit vom Bereich des Dekorativen zu unterscheiden und ihr mittels der Metapher der Bewegung Autonomie zu verleihen. So schreibt etwa Carola Giedion- Welcker in ihrer nach Kemenys Tod erschienenen Monographie:“Denn das Temperament, von dem diese Metallbilder durchsetzt sind, das rhythmische Wogen, das durch sie hindurchzieht, das Fliessende und Züngelnde dichtgeschichteter Partikelgleichheiten heben das Ganze über das distanziert Dekorative und Schmuckhafte hinaus und machen es zu einer poetisch gesteigerten und gestalteten Aussage.”25

Bewegung ja – aber vielleicht nicht eine den Metallelementen inhärente, organische Bewegung, von der hier die Rede ist, sondern Bewegung als Korrespondenz, die Beziehung von einem Element zum anderen, von einem Ort zum anderen. Kemeny hatte sich dazu seine eigenen Gedanken gemacht: bereits 1955 schrieb er im Vorwort zu seiner Ausstellung in der Zürcher Galerie 16, dass er beim Lesen von Paul Valérys Schriften über die Kunst an die Bewegung, “le mouvement réel”, gedacht habe. Valéry habe das Festhalten eines Handlungsablaufs auf den Bildern “im eisigen Schweigen der Museen” nicht ertragen. “Ich habe bemerkt, dass manche mikrobiologische Photographien von Zellen einander im Zustand des Stillstands sehr ähneln. Dieselben Elemente unterscheiden sich voneinander, sobald sie in Bewegung sind. Es ist also nur die Geschwindigkeit, die die Unterschiedlichkeit ihrer Formen erscheinen lässt. Man dürfte nicht, wie manche es getan haben, nur die wichtigste Bewegung auswählen und sie festhalten. Es ist die Bewegung selber mit ihrer Geschwindigkeit, die das Denken des Menschen ausdrückt.”26 Man könnte diese Konzeption der Bewegung nicht isoliert in den Bildern und Reliefs dargestellt finden, sondern eher im Übergang vom einen Bild zum nächsten, von der Malerei zu den Reliefs, und damit würde man Kemenys Furcht vor dem Stillstand als dem Moment der Indifferenz, in der die einzelnen Elemente in der Unkenntlichkeit verschwinden, ernst nehmen. Sein beinahe zwanghaftes Notieren von potentiellen Bildvorlagen und deren Umsetzung in dem von ihm erdachten Transformationsprozess dienen dazu, Differenzen herzustellen. Kemeny klammert sich dabei nicht an eine endgültige Darstellung, an eine Lösung, sondern beharrt darauf, dass nur die Abfolge – diejenige der Moden in seiner beruflichen Arbeit, der Bildvorlagen in seiner Kunst – von Belang sei: dass alles Malerei, Bild werde, in Bewegung gerate, um sichtbar zu werden. Die Bewegung erhält auf diese Weise nicht den mechanischen und trivialen Sinn wie in der in jenen Jahren propagierten kinetischen Kunst, sondern sie folgt aus der viel tieferen, prozessualen Auffassung der Kunstproduktion heraus, die man nach dem Krieg in Europa wohl am deutlichsten bei Lucio Fontana ausgebildet findet und die sich ihrer Artifizialität stets in hohem Grade bewusst bleibt. So lässt sich auch Kemenys Begriff des Zeichnens und des Rückgriffs auf Natur als eine Tätigkeit lesen, die keineswegs einer organischen Vorstellung folgt, sondern die erneut auf den Übergang, die Transformation zielt, ohne dass damit ein Moment des Anfangs gegeben wäre, das eher Natur ist als ein anderes Moment dieser Folge:“Ich zeichne viel – bis zu dem Augenblick, wo ich nicht mehr weiss, ob ich es bin, der eine Form in der Natur festhält oder ob ich selber Teil der Naturformen bin.”27

In den frühen Zürcher Malereien und später auch in den Reliefs erscheint Kemeny als einer der ersten und originären Vertreter der Neoavantgarden, die sich nach dem Krieg in den verschiedenen Ländern Westeuropas und Nordamerikas zu formieren begannen. Es tritt bei ihm bereits zu diesem Zeitpunkt deutlich die Trennung zwischen Erfindung und produktiver Verwertung, zwischen Methode und daraus abgeleitetem Kunstwerk hervor, die den Unterschied zu den Vorstellungen der ersten Avantgarden der zehner und zwanziger Jahre markiert. Der Arbeitsvorgang, einerseits definiert als Reihe von rekonstruierbaren Entscheidungen, andererseits versehen mit einem utopistischen, oft sozial vermittelten Anspruch, geht über in den Prozess, der sich am Material, am Subjekt oder an dessen Verhältnis zum kulturellen Bildervorrat konstituiert – ein Begriff, der seinerseits bis in die sechziger Jahre hinein in verschiedenen Ausprägungen wirksam werden sollte. Der Maler Kemeny, der sich in der Bibliothek dokumentierte, konnte auf einen Fundus anonymer Volkskunst und auf kunstgewerbliche Leistungen verschiedenster Epochen und Kulturen ebenso zurückgreifen wie auf Klee oder Matisse, deren Vorkriegswerk inzwischen in monographischen Übersichten vorlag. Vergleichbar sind diesem Vorgehen zahlreiche andere Formen von Übertragungen, die gleichzeitig auftreten und die bestimmte vorgegebene kulturelle, soziologische oder wissenschaftliche Elemente als Ausgangsmaterial für eine Kunstproduktion nehmen, in der diese Vorlagen bewusst unkenntlich gemacht oder mindestens einem Entstellungsprozess unterworfen werden. Zu nennen in dieser Reihe von Transformationen vorgegebenen Materials wären der Primitivismus der Gruppe Cobra und Dubuffets art brut ebenso wie die Verwertung geometrischer oder arithmetischer Gesetze bei den Zürcher Konkreten oder bei François Morellet, die Verwendung beliebiger wahrgenommener Formen bei Ellsworth Kelly oder die Décollagen von Hains und Villeglé, wo schon das blosse Vorzeigen des Fundstücks als dessen Entstellung eingesetzt wird. Diese Formen der Nachkriegskunst basieren auf dem Gedanken einer Demonstration von Methoden der Kunstproduktion, die zwar als rekonstruierbar vorausgesetzt werden, aber gleichzeitig dem Werk entzogen sind.

Damit soll nicht Kritik an Kemeny geübt werden; vielmehr erfüllt er geradezu paradigmatisch das Schicksal des Nachkriegskünstlers, der den Einschnitt, den der Zweite Weltkrieg in in die europäischen Kulturen gelegt hatte, als Lücke in sein eigenes Werk einschreibt. Dies geschieht nicht, indem sein Werk diesen Einschnitt als Schweigen oder als Verletzung formulieren würde – es ist gerade umgekehrt: nach einer Karenz von zehn Jahren, während welcher Kemeny sich nicht mit der Malerei beschäftigt hatte, kehrte er 1943 in Zürich zu einer Tätigkeit als Künstler zurück und führte im Exil anhand seiner unerhörten Produktivität und anhand der dokumentarischen Quellen, die ihm zur Verfügung standen, die freie Verfügbarkeit kultureller Fakten vor, die erst recht ein Gefühl von Insuffizienz, die Realität der historischen Zerstörung bezeugt. Es ist wohl ein Gefühl, dem nur mit dem Gedanken der fortwährenden Bewegung beizukommen war. Anmerkungen:

1 Vgl. dafür Hans-Jörg Heusser, Zoltan Kemeny: Das Frühwerk 1943–1953. Katalog der Peintures, Sculptures und Relief-Collages. Basel: Wiese Verlag, 1993. 9

2 Zur Geschichte der Rezeption siehe die ausführliche Darstellung in: Hans-Jörg Heusser, Zoltan Kemeny, a.a.O., S. 12–34.

3 Im posthumen Werkverzeichnis (Gaëtan Picon/Ewald Rathke, Kemeny: Reliefs en métal. Paris: Maeght éditeur, 1973) erscheinen Zeichnungen erstmals als ornamentale Vignetten, eine Verwendung, die sie wieder an den Ort zurückführt, woher Kemeny manche Motive entlehnt hatte. In einigen wenigen Fällen bilden die Autoren Studien zu Reliefs ab (S. 30, 137, 172–173, 176).

4 Galerie Maeght, Zürich, 1980; Galerie Peccolo, Livorno, 1986 (mit Katalog); Galerie Lelong, Zürich, 1993.

5 Zoltan Kemeny, “Lettre à Csaba Sik”, in: Gaëtan Picon/Ewald Rathke, Kemeny: Reliefs en métal, a.a.O., S. 189. Dies hebt auch Ewald Rathke in seinem Aufsatz hervor (ebenda, S. 33).

6 Gaëtan Picon/Ewald Rathke, Kemeny: Reliefs en métal, a.a.O., Nr. 158. 7 Eine erste Erwähnung der vier damals vorliegenden Skizzenbücher findet sich in: Hans-Jörg Heusser, Zoltan Kemeny, a.a.O., S. 64–69. Wie sich im folgenden erweisen wird, können wir seinen Folgerungen allerdings nicht in allen Punkten zustimmen. Seit dem Erscheinen dieser Monographie kamen bei der Räumung der ehemaligen Wohnung der Kemenys 27 Skizzenbücher aus den Jahren 1943 bis 1953 zum Vorschein; es sind nun also insgesamt 31 Skizzenbücher (Schulhefte und Notizblöcke) überliefert.

8 Für Kemenys Modetätigkeit siehe: Mariana Christen und Johanna Gisler, “‘Es sollte tragbar sein und doch chic. Eben schweizerisch.’ Ein Gespräch mit Madeleine Szemere Kemeny”, in: Ganz Annabelle: Eine Zeitschrift als Freundin. Herausgegeben von Mariana Christen, Johanna Gisler, Martin Heller. Zürich: Museum für Gestaltung/Chronos Verlag, 1992, S. 86–95.

9 Gespräche mit Madeleine Kemeny, Zürich, Oktober 1992 und Januar 1993.

10 Henri Matisse: Seize peintures 1939–43. Introduction de André Lejard. Paris: Editions du Chêne, 1943; Paul Klee: Zehn Farbenlichtdrucke nach Gemälden. Ausgewählt und eingeleitet von Georg Schmidt. Basel: Holbein-Verlag, 1945; Roger Lesbats, Cinq peintres d’aujourd’hui: OEuvres de Beaudin, Borès, Estève, Gischia, Pignon. Paris: Éditions du Chêne, 1943.

11 Mit den Skizzenbüchern wurden im Nachlass auch siebzehn Bestellzettel der Bibliothek der Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich (heute: Schule für Gestaltung) gefunden, die präzise Auskunft über die von Kemeny bevorzugte Literatur geben.

12 Das Skizzenheft mit der Bezeichnung Bibliothèque I enthält ausführliche Literaturlisten mit den Signaturen der benützten Bücher.

13 Hans-Jörg Heusser, Zoltan Kemeny, a.a.O., Nr. 175.

14 Vgl. dazu den Katalog in: Dieter Schwarz, Zoltan Kemeny: Die Werke im Kunstmuseum Winterthur. Winterthur: Kunstmuseum Winterthur, 1993 (=Schriften zur Sammlung 1).

15 “Pourquoi panger pas la nature? Mais si, je pende ma nature. / Tous les pentres penger pour le montrez comment ils faut pas pendre.” [sic!] – Unbetiteltes Skizzenheft, um 1943, o.S. (Nachlass Kemeny, Zürich).

16 Hans-Jörg Heusser, Zoltan Kemeny, a.a.O., passim.

17 “L’art d’Europe deviendra comme l’art negre, chine, Hindu etc.” [sic!]” – Skizzenheft E, um 1946– 1947, o.S. (Nachlass Kemeny, Zürich).

18 Vgl. die Nr. 4 der Zeitschrift Cobra von 1949, die als Katalog der Amsterdamer Ausstellung diente; sie enthält Abbildungen des Reliefs Festonie von Zoltan Kemeny (S. 16) und einer Zeichnung von Madeleine Kemeny (S. 24) nebst der Liste der ausgestellten Werke.

19 “Je montre comment tous les mondes pouvez faire la peinture.” [sic!] – Skizzenheft D, um 1947–1949, o.S. (Nachlass Kemeny, Zürich).

20 Siehe beispielsweise Constants programmatischen Aufsatz “C’est notre désir qui fait la révolution”, erschienen zur Amsterdamer Ausstellung in: Cobra, Nr. 4 (1949), S. 3–4.

21 “Je reste éternellement sous l’influence de l’art populaire hongrois. Jadis, j’avais la même ambition dans l’écriture du tableau que Béla Bartók dans l’écriture de la musique.” (Zoltan Kemeny, “Lettre à Csaba Sik”, in: Gaëtan Picon/Ewald Rathke, Kemeny: Reliefs en métal, a.a.O., S. 189.)

22 “Ni le passé, ni le futur ne m’intéressent. Seul, le présent. Aujourd’hui, j’aimerais réaliser quelque chose qui exprime ‘l’aujourd’hui’.” (Ebenda.)

23 Vgl. das Gespräch mit Madeleine Kemeny, ebenda, S. 86. 10

24 Paraphrase und nicht Parodie, wie Heusser vorschlägt (Hans-Jörg Heusser, Zoltan Kemeny, a.a.O., S. 37–40), da sich Kemeny jeder Kritik an den Vorlagen enthält und auf deren Inhalt nicht wertend eingeht.

25 Carola Giedion-Welcker, Zoltan Kemeny. St. Gallen: Erker-Verlag, 1968 (=Künstler unserer Zeit, Bd. XV), S. 10.

26 “J’ai remarqué que diverses photographies de cellules microbiologiques ont beaucoup de ressemblance entre elles à l’état d’immobilité. Les mêmes éléments deviennent tout différents lorsqu’ils sont en mouvement. C’est donc seulement la vitesse qui fait apparaître leur différence de formes. Il ne faudrait pas, comme certains l’ont fait, choisir seulement le mouvement le plus important et le fixer. C’est le mouvement lui-même avec sa vitesse qui donnerait corps à la pensée de l’homme.” (Zoltan Kemeny, “Préface de Kemeny pour son exposition, Galerie 16, Zürich 1955”, in: Gaëtan Picon/Ewald Rathke, Kemeny: Reliefs en métal, a.a.O., S. 185.)

27 “Je dessine beaucoup – jusqu’au moment, où je ne sais plus, si c’est moi qui saisis une forme dans la nature, ou si c’est moi-même qui fait partie des formes de la nature.” (Zoltan Kemeny, “Quelques notes”, in: Zoltan Kemeny. Paris: Editions des Musées nationaux, 1966, S. 17.)

Veröffentlich in französisch und englisch in: Zoltan Kemeny. Les donations de Madeleine Kemeny dans les collection du Centre Pompidou. Didier Schulman [Redaktion]

Paris: Musée national d’art moderne, 2004.

Download: Pressedossier des Centre Pompidou zur Ausstellung mit Informationen zu Kemenys Person und Werk (in englischer Sprache)

Eine trostlose Kiste sanieren?

Von Philipp Oswalt

Seit Oktober 2018 untersuchte die im Kulturdezernat angesiedelte „Stabsstelle Zukunft der Städtischen Bühnen“ unter der Leitung des Architekten Michael Guntersdorf, ob und unter welchen Bedingungen eine Sanierung der Theaterdoppelanlage unter Bestandsschutz möglich ist. Im Januar 2020 kam sie zu dem Fazit, dass ein Neubau einer Sanierung bzgl. Kosten, Risiken und  Resultaten vorzuziehen sei. Ähnlich hatte die Politik die Machbarkeitsstudie bewertet, die nach dreijähriger Bearbeitungszeit im Sommer 2017 vorgestellt worden war und welche die Kosten für Sanierung und Neubau noch als etwa gleich hoch eingeschätzt hatte. Angestoßen wurde die Entwicklung eines Sanierungskonzepts, weil das Revisionsamt über mehrere Jahre auf Grund der immer wieder neuen Sanierungsbedarfe beim Gebäude 2011 eine Gesamtkonzeption eingefordert hatte.

Zu Recht wollte man sich anders als bei dem Desaster der Sanierung der Kölner Bühnen nicht auf ein unüberschaubares Abenteuer einlassen, zumal der Frankfurter Theaterbau ein wahres Palimpsest ist: In zwei Etappen in den 1950er und 1960er Jahren errichtet, enthält er umfangreiche Reste des Jugendstilbaus von 1902 und wurde später wiederholt umgebaut, saniert und erweitert. Unstrittig ist, dass die gewachsene Struktur vielfache Probleme birgt und nach Jahrzehnten intensiver Nutzung wie andere Nachkriegstheaterbauten einer umfassenden Sanierung bedarf.

Zugleich ist aber das Gebäude von Otto Apel, Hannsgeorg Beckert und Gilbert Becker ein herausragender Theaterbau der Nachkriegsära, der über Jahrzehnte einer der prägenden Orte des kulturellen Lebens von Frankfurt war, in dem auch immer wieder gesellschaftlich relevante Diskurse ausgetragen wurden. Er hat Stadtgeschichte geschrieben und Identität gestiftet als ein Ort bürgerlicher Öffentlichkeit, in dem die Stadtgesellschaft über ihre Gegenwart und Zukunft nachgedacht und gestritten hat. Das Haus mit seinem großen urbanen Glasfoyer, das sich der Stadt zuwendet und es als eine Bühne des öffentlichen Lebens inszeniert, war ein Symbol für ein neues, auf demokratische Teilhabe ausgerichtetes gesellschaftliches Selbstverständnis Westdeutschlands nach 1945. Das in den Bau integrierte Gemälde von Marc Chagall und die Goldwolken des ungarischen Künstlers Zoltán Kemény sind zugleich einzigartige Beispiele einer architekturbezogenen Kunst ihrer Epoche.

2017 hatte der ehemalige Frankfurter Baudezernent Hans-Erhard Haverkampf die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie in Zweifel gezogen und eine Sanierung für einen Bruchteil der damals auf ca. 900 Mio. € bezifferten Sanierungskosten für möglich gehalten. In einem eigenen Gutachten zeigte er eine Vielzahl von Alternativen auf. Auch für diejenigen, welche die Materie im Einzelnen nicht überblicken oder gar durchdringen und bewerten konnten, hatten einige Argumente Haverkampfs große Überzeugungskraft. Dazu gehörte die Kritik an einer massiven Erhöhung des Raumprogramms auf dem beengten Grundstück, welches einen kostspieligen Hochhausbau für Theaterservicefunktionen zur Folge hatte. Zum zweiten gehörten dazu umfangreiche Umbauten des Schauspiels einschließlich einer Verengung des ungewöhnlich breiten Bühnenportals, eine von anderen Intendanten und Regisseuren geschätzte Eigenheit der Frankfurter Bühne. Zum dritten gehörte die – beides im Widerspruch zur Grundidee eines Kammerspiels stehende, aber von der Intendanz ebenfalls gewünschte – bühnentechnische Aufrüstung der Kammerspiele verbunden mit einer Erweiterung ihrer Zuschauerkapazität. Weitgehend ungefiltert hatte man diese Wünsche der Intendanz übernommen, was in relevantem Umfang zu den unerwartet hohen Kosten beitrug. Fertiggestellt wurde die Machbarkeitsstudie vom Hochbauamt in der Zuständigkeit des Baudezernenten Jan Schneider, der seit Fertigstellung der Studie eine Neubaulösung an anderem Standort propagiert.

Seit 2018 leitet Michael Guntersdorf, der zuvor den Bau der Neuen Altstadt für die Stadt verantwortet hatte, als Leiter der Stabsstelle die Untersuchungen zur Möglichkeit einer Sanierung der Städtischen Bühnen.  Aus seiner negativen Einstellung zum bestehenden Theaterbau von 1963 er nie einen Hehl gemacht. Das Glasfoyer sei – so Guntersdorf – ein „Zufallsprodukt“, das sich aus der Gebäudestruktur ergeben und nichts mit demokratischem Aufbau zu tun gehabt habe. Es sei „tagsüber ziemlich trostlos und gewinnt nur abends – wie bei einer Kneipe.“ Sein Fazit zog er bereits im Juni 2019, also mitten in den laufenden Untersuchungen: „Die Kiste hat sich überholt.“ Dass die Stabsstelle der Politik nahegelegt hat, eine Sanierung auszuschließen, ist vor diesem Hintergrund nicht erstaunlich. Irritierend und Misstrauen erweckend ist die Tatsache, dass die Stabsstelle die eigentlichen Studien anders als 2017 bislang nicht veröffentlicht hat. Trotz wiederholter Nachfragen ist weder der Abschlussbericht des Planungsteams noch der Bericht des Evaluierungsteams bislang einsehbar. Sie lagen auch den Stadtverordneten bei ihrer Entscheidung gegen eine Sanierung Ende Januar 2020 nicht vor, die sich allein auf die Informationen einer Pressemittelung stützen konnten.

Weder bei dem Beschluss noch bei den Untersuchungen spielte die Frage des Denkmalschutzes eine Rolle. Das Wort Denkmal oder Denkmalschutz ist in der Machbarkeitsstudie von 2017 und in dem Bericht der Stabsstelle von Februar 2020 kein einziges Mal erwähnt. Trotz neun Jahre langen Untersuchungen zu Kosten von ca. 8 Mio. € ist keine einzige bauhistorische Studie zum kulturellen Wert des Denkmals beauftragt worden. Auch hier spielt die Haltung der Verantwortlichen eine Rolle. Der für den Denkmalschutz verantwortliche Planungsdezernent Mike Josef (SPD) ließ den Denkmalbeirat im März 2019 wissen, dass „die Grundlage seiner Arbeit und Entscheidung über das Gebäude […] auf der Tatsache [beruht], dass das Schauspielhaus oder Teile davon zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht unter Denkmalschutz stehen“. Er sagte dies, obwohl Landesdenkmalpfleger Heinz Wionski bereits zwei Jahre zuvor gegenüber Mike Josef und dem Denkmalbeirat klarstellte, dass „das Opern- und Schauspielhaus, zumindest in Teilen, als Kulturdenkmal anerkannt“ sind.

Die relevanten Studien als downloads:

Machbarkeitsstudie von 2017:

Gegengutachten von Hans-Erhard Haverkampf 2017:

Abschlussbericht des Planungsteams Januar 2020: Bislang nicht verfügbar

Abschlussbericht des Evaluierungsteams Januar 2020: Bislang nicht verfügbar

Bericht der Stabsstelle von Februar 2020:

Leuchtturm im Nirgendwo

Nach dem Willen der Frankfurter Stadtpolitik soll die ikonische Theateranlage am Willy-Brandt-Platz abgerissen und von einem Neubau für die Städtischen Bühnen abgelöst werden. Gewünscht ist ein Leuchtturmprojekt von internationaler Strahlkraft, ein neues Bilbao am Main. Wo dieses errichtet werden soll, weiß man allerdings noch gar nicht. Die CDU kann sich gut das Raab-Karcher-Gelände im Bereich des Ostbahnhofs vorstellen, SPD und Grüne hingegen tendieren dazu, die Oper in der Wallanlage gegenüber dem heutigen Gebäude zu errichten und dieses dann nach Umzug der Oper durch ein neues Schauspielhaus zu ersetzen. Als Standorte für jeweils eines der beiden Häuser sind auch die Wallanlagen gegenüber der Alten Oper und der Kulturcampus an der Bockenheimer Warte im Gespräch.

Mit allen neuen Standorten sind aber Zielkonflikte mit anderen Nutzungen verbunden. Für das Grundstück am Osthafen verfügt der Baustoffhändler über einen langjährigen Pachtvertrag, und eine Großstadt benötigt auch Gewerbe- und Logistikflächen. Der dortige Standort ist mit Schiffs- und Zugverkehr umweltfreundlich erschlossen, während für den Personennahverkehr die Anbindung wesentlich schlechter wäre als am Willy-Brandt-Platz.

Die Standorte in der Wallanlage sind im Konflikt mit dem Wallservitut von 1827, welche die nach dem Abriss der Stadtbefestigung entstandene Grünanlage nachhaltig vor Bebauung schützen soll. Ein Neubau hier wäre weder denkmalpflegerisch, städtebaulich-freiraumplanerisch noch ökologisch überzeugend.

Nach langjähriger Planung sind am Kulturcampus in Bockenheim bereits Neubauten für ein Zentrum der Künste (u.a. für das Frankfurt Lab) und Neubauten für Hochschule für Musik und Darstellende Kunst vorgesehen. Ob und wo hier Platz wäre für eine der beiden Bühnen, ist eine noch nicht beantwortete Frage.

Erste Entwürfe

Entwurf der Wentz & Co GmbH für ein neues Opernhaus 2019
Entwurf für eine neue Theateranlage am Osthafen von O.M.A.

So wenig es ein Grundstück für den Neubau bzw. die Neubauten gibt, geschweige denn eine inhaltliche Konzeption für die Zukunft der städtischen Bühnen, so wenig fehlt es an Akteuren der Immobilienwirtschaft, die sich für dieses Projekt ins Spiel bringen. Lukrativ ist nicht nur die Entwicklung des Neubauvorhabens, sondern auch das Filetgrundstück, welches bei Abriss der heutigen Theaterdoppelanlage frei wird.

Bereits 2018 taten sich die Projektentwickler Martin Wentz (früher Planungsdezernent von Frankfurt, heute Geschäftsführer der Immobilienentwicklungsgesellschaft WENTZ & CO. GMBH) und Heinz-Günter Lang (Lang & Cie. Real Estate AG) mit weiteren Mitstreitern unter dem Label „Stiftung neue Oper Frankfurt“ zusammen und präsentierten der Öffentlichkeit einen ersten Neubauentwurf. Knapp zwei Jahre später zog die Groß & Partner Grundstücksentwicklungsgesellschaft mbH nach und veröffentliche in ihrem Namen einen Entwurf des Office for Metropolitan Architecture, Rotterdam für das Gelände am Ostbahnhof.

Diskurse

Die Initiative Zukunft Bühnen Frankfurt plant, soweit es die Regelungen angesichts der Covid-19 Pandemie zulassen, ab Herbst 2020 mehrere Veranstaltungen durchzuführen, um bislang unzureichend behandelte Themen zu debattieren. Hierzu gehört die Konzeption des Stadttheaters der Zukunft, das Werk des jüdischen Künstlers Zoltan Kemeny (Goldwolken) und die Frage des Interims. Kooperationspartner hierbei sind der Arch+ Verein zur Förderung des Architektur- und Stadtdiskurses e.V., der Werkbund Hessen, die Goethe-Universität Frankfurt und die Frankfurt University of Applied Sciences. Um die Kosten zu decken, bitten wir um Spenden, für welche dieser Tage ein Konto eingerichtet wird. Weitere Informationen hierzu folgen in Kürze.

Wieso von einem Provisorium die Zukunft abhängt

Entwurf für ein Theaterinterim auf dem Goetheplatz von der Studierenden Patrcia Majuf, Universität Kassel

Von Philipp Oswalt// Ob als Sanierung oder Neubau – der Verbleib der städtischen Bühnen an ihrem jetzigen Standort erfordert Interimsspielstätten, weil auch eine Sanierung im laufenden Betrieb nicht möglich ist. Und die Frage des Interims spielt gegenwärtig eine maßgebliche strategische Rolle bei der Frankfurter Theaterdiskussion. Das liegt an seinen Kosten. Nach Aussagen der Stabsstelle Städtische Bühnen von Februar 2020 kostet ein Theaterinterim 27,5 Mio. €, ein Operninterim 69,9 Mio. €. Aufgrund dieser Kosten wollen einhellig alle Kulturpolitiker– bei sonst divergierenden Ideen – ein Operninterim vermeiden, was den Umzug der Oper an einen neuen Standort erzwingt. Doch stellt sich die Frage: Ist dies wirklich schlüssig?

Schon ein erster Blick verrät, dass hier von absurden Voraussetzungen ausgegangen wird. Die Opernintendanz wünscht sich, dass sie im Interim die Bühnenbilder des gegenwärtigen Repertoires weiternutzen kann. Dafür ist aber eine Drehbühne mit einem Durchmesser von 38,5 Metern erforderlich. Nach Aussagen von Fachleuten hat es bislang weltweit noch nie ein Interim mit Drehbühne gegeben. Viele Opernhäuser wurden aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten saniert, eben ohne solche aufwändigen Lösungen und damit zu geringeren Kosten.

Daher sind die Annahmen für mehrjährige Interimszeiten zu hinterfragen. Ein Operninterim wird finanziell vertretbar und auch möglich, wenn nicht derartige Maximalforderungen diskussionslos gesetzt sind, sondern ein Interim auch als eine Chance begriffen wird, Oper einmal anders zu denken, an anderen Spielorten und in anderen Spielweisen, nicht als Repertoirebetrieb, sondern im En-suite-Betrieb usw. Dies ist das eine. Das andere sind die möglichen Spielorte. Hier sind prinzipiell mehrere Ansätze denkbar: Neubau, Umnutzung oder Nachnutzung. Bei letzterem würde das Bauwerk für das Interim entweder am gleichen Ort für eine andere, folgende und permanente Nutzung weiterverwendet, so dass sich der investive Aufwand rechtfertigt. Oder aber es ist ein ab- und wiederaufbaubares Bauwerk, welches andernorts für ähnliche Zwecke weitergenutzt werden kann wie z.B. bei der Opéra des Nations des Grand Théâtre in Genf, welche das in Holzbauweise ausgeführte Interim der Comédie- Française Paris von 2012/2013 ab 2016 weiternutzte. (siehe hierzu etwa: https://www.espazium.ch/de/aktuelles/das-opern-provisorium-genf-ein-instrument-aus-holz). Bei 60% auswärtigen Zuschauern wäre es zudem auch angemessen, Schauspiele und Oper nicht lokal, sondern regional zu begreifen und auch Ersatzspielstätten z.B. in Darmstadt in Betracht zu ziehen.

Mehre Studienprojekte befassten sich damit, wie für die Sanierung der Städtischen Bühnen Frankfurt eine Interimslösung konzipiert werden könnte. Im Wintersemester 2017/18 entwarfen Studierende der Universität Kassel ein Schauspielinterim für den Goetheplatz. Weitere Infos finden Sie hier im download.

Im Oktober 2019 entwarfen Studierende der AAC Academy for Architectural Culture Hamburg ein Operninterim an der Bockenheimer Warte. Weitere Infos finden Sie mit diesem link: www.aac-hamburg.de/forschung/kulturelle-bauten/details/workshop-1578-designs-for-an-interim-venue-of-the-frankfurt-opera.html

Fehlstelle Theaterkonzept

Obwohl 9 Jahre vergangen sind und etwa 8 Mio. Euro für die Planung ausgegeben wurden, gibt es kein Konzeptpapier, welches Ideen für das Stadttheater der Zukunft formuliert. Erst allmählich wurde im Verlauf des Prozesses die Diskussion begonnen, die an seinem Anfang hätte stehen müssen: Wie man sich das Zentrum des intellektuellen und künstlerischen Lebens, welches das Theatergebäude an diesem Ort darstellt, im 21. Jahrhundert vorzustellen hat. Die Entwicklung des Raumprogramms wurde der Unternehmensberatungsfirma M.O.O.CON übertragen, welche sonst vor allem Büroarbeitswelten und Firmensitze konzipiert und im Dialog mit den Städtischen Bühnen die grundlegende Nutzungskonzeption bereits 2017 festlegte. Während das Bestandsgebäude zur Disposition gestellt wird, soll der konzeptionelle Status quo für das Theater zukünftiger Generationen unreflektiert fortgesetzt werden, allenfalls mit quantitativen oder funktionalen Verbesserungen. Der Hauptfokus aller Untersuchungen damals wie jetzt lag auf Fragen von Kosten, Brandschutz, Logistik, Haus- und Bühnentechnik, Tragwerk und Arbeitsstättenrichtlinien. Zu diesem technokratisch anmutenden Vorgehen gesellte sich allein der politische Wunsch nach einem Leuchtturmprojekt, womit Kultur den Prämissen des Stadtmarketings unterworfen wird.

Wo also in Bezug auf die Architektur von einer Ignoranz gegenüber dem Bestehenden gesprochen werden muss, ist in Bezug auf die Theaterpraxis eine Ignoranz gegenüber Fragen nach dringend benötigten neuen Perspektiven zu konstatieren. Dabei wäre es gerade in Frankfurt, wo in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Theater neu und anders erfunden wurde und man sich nie einfach ans vermeintlich gute Alte klammerte, unbedingt notwendig, die Diskussion grundlegender zu führen: Ist es noch gerechtfertigt, eine einzige Kunstform gegenüber allen anderen derart zu privilegieren? Würde ein Stadttheater der Zukunft nicht viel eher der mit dieser Institution verbundenen Idee des 18. Jahrhunderts gerecht, wenn es zum Zentrum aller mit Öffentlichkeit verbundenen darstellenden Künste würde? Warum wird nicht – eine Idee Alexander Kluges aufgreifend – ein Neubau des Theaters mit dem ebenfalls anstehenden Neubau der Universitätsbibliothek verknüpft? Warum trennt man Theater baulich wie bei der Subventionierung von Popkultur und Literaturveranstaltungen ab? Müssten in Zeiten der Globalisierung und einer längst durch vielfältige Migrationen veränderten Gesellschaft, wie sie sich insbesondere in Frankfurt mit einem Anteil von Bürger*innen mit Migrationshintergrund zwischen 60 und 80 Prozent zeigt, nicht auch anderen Akteuren die Bühnen geöffnet werden? Weiter wäre die Frage zu stellen, ob Ensemble- und Repertoire-Theater heute noch zeitgemäße Formen der Führung einer solchen Institution sind und wie der Austausch des Hauses mit anderen Häusern im In- und Ausland vereinfacht und die Bühnen für Künstler aus dem globalen Süden geöffnet werden können.

Das Festhalten am Status quo wird am grotesken Umgang mit der Frage des Interims deutlich. Die Opernintendanz erwartet, im Interim den gegenwärtigen Spielbetrieb möglichst unverändert fortsetzen zu können. Um die Bühnenbilder des bestehenden Repertoires weiter unverändert nutzen zu können, bedarf es einer Drehbühne von 38,5 Meter Durchmessern, die in Kosten von € 70 Mio. für das Interim resultieren, welche wiederum von der Politik als nicht vertretbar gelten. Daraus folgt– bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten einhellig – die Auffassung: Es darf für die Oper kein Interim geben, deswegen muss die Oper auf einen neuen Standort umgesiedelt werden.  Dass viele Operngebäude in den letzten Jahrzehnten erfolgreich saniert worden sind und es weltweit bislang kein Operninterim mit einer Drehbühne gegeben hat, ist den Frankfurter Politikern vermutlich nicht bekannt.

Textauszug aus „Die neuen Städtischen Bühnen Frankfurt – Ein Großprojekt ohne Konzept“ von Maren Harnack, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Oswalt und Carsten Ruhl als Initiatoren der Petition ‚Zukunft der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main‘ vom 16.4.2020

„Vielen Dank, Sie werden von uns hören“

jedermann (stirbt) , Ferdinand Schmalz / Regie: Jan Bosse, Heiko Raulin, Foto: Arno Declair

Seit Kriegsende handeln Inszenierungen an Schauspiel und Oper Frankfurt nicht nur das Demokratieverständnis in der eigenen Stadt aus, sondern auch weit über deren Grenzen hinaus.

In den Tagen unmittelbar nach Kriegsende 1945 war die Sehnsucht der Frankfurter, dem Theater mit seinen hoffnungsvollen Utopien beizuwohnen, besonders groß. Noch in den Trümmern spielte man bereits Theater, inszenierte Oper: Im Börsensaal, in einer Turnhalle in Sachsenhausen, im Klostergarten des Karmeliterklosters und im Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Heinz Hilpert lotste als Intendant die Bühnen sicher durch die schwierige Zeit, bis er 1948 selbst aus dem Amt ausstieg, da er sich vom Politpersonal nicht korrumpieren lassen wollte. 1963 wurde schließlich die Theaterdoppelanlage für Oper und Schauspiel eingeweiht, wie sie noch heute besteht. Mit Einweihung des neuen Baus nahm Intendant Harry Buckwitz (1951-1968) zunehmend Kurs auf das politische Theater. Allein fünfzehn Werke Brechts kamen in seiner Ära auf die Bühne. Das Foyer von ABB Architekten als „Zwischenbereich der Musen“ unterstützte ihn bei diesem Bemühen nachhaltig, schob sich doch das „Frankfurter Querschiff“ mit Zoltan Keménys Goldwolken, so H. Buckwitz in der Eröffnungsbroschüre, als vermittelnder weiterschwingender Erlebnisraum zwischen Straße und Bühne.

Das Mitbestimmungsmodell an beiden Bühnen

In der aufreibenden Zeit der aufklärerischen 1970er Jahre brachte sich die Doppelbühne in Frankfurt am Main mit einem besonderen Modell in die kulturpolitische Diskussion ein: Vom Frankfurter Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann unterstützt, führte man am Schauspiel sowie an der Oper Frankfurt von 1972 bis 1981 das Mitbestimmungsmodell ein. Für das Schauspiel wurde der Generalintendant abgeschafft und anstelle seiner ein Dreierdirektorium sowie ein Künstlerischer Beirat eingesetzt, die über die Geschicke des Spielbetriebs entschieden. Spielplangestaltung, Besetzungen, Engagements, Urlaube standen plötzlich zur demokratischen Abstimmung. Für die Oper wurde das abgemilderte Mitbestimmungsdekret eingeführt. Das Mitbestimmungsmodell in Frankfurt sollte auf die gesamte Theaterszene in der Bundesrepublik ausstrahlen und veränderte maßgeblich die Spielpläne, so wie Brecht es einst formuliert hat: „Dass das moderne Theater (…) nicht danach beurteilt werden (muss), wieweit es die Gewohnheiten des Publikums befriedet, sondern danach, wieweit es sie verändert.“ 

Das Schauspiel wurde nun von einem Dreierdirektorium um Peter Palitzsch (1972-1980) geleitet, den der Magistrat vom Stuttgarter Staatstheater holte und der seine gesamte Gefolgschaft mitbrachte. Brecht-Schüler Palitzsch verstand Theater so wie sein Lehrer: „Der Gesellschaft muss klar sein, dass sie nicht dafür zahlt, dass wir sieverherrlichen, sondern dass wir einen demokratischen Prozess aufrechterhalten, das heißt, alles bekämpfen, was zu Entdemokratisierung, zu Starre und Niveauschwund führen kann..“ Für Palitzsch war Theater „ein Instrument der Emanzipation und ein Ort der Freiheit“, wie Hilmar Hoffmann nachblickend beschrieb. Das führte allerdings dazu, dass das Theater abrupt 4.000 Abonnenten verlor. Und nur durch das Gutdünken von Hilmar Hoffmann konnte Palitzsch weitermachen, denn dem damaligen OB Walter Wallmann gefiel das Treiben des freigeistigen Theaterregisseurs kaum. 

Unter Palitzsch wurde auch das Stück „Vielen Dank, Sie werden von uns hören“ aufgeführt. Es war eine Reaktion auf die Entlassung zweier Lehrerinnen an der Ernst-Reuter-Schule wegen Kommunismusverdachts, Folge des Radikalenerlasses von Willy Brandt. Nach Aufführungen in der Schulaula kam es auf den Spielplan des Schauspiels – und wurde dort gegen Protest der CDU aufgeführt. Damit zeigte der Regisseur, wie sich Theater in den demokratischen Prozess einbringen kann. In der Phase der Mitbestimmung arbeiteten unter anderem die Regisseure Hans Neuenfels, Klaus Michael Grüber, B. K. Tragelehn oder Horst Zankl am Schauspiel Frankfurt. Zum Ensemble gehörten u.a. Susanne von Borsody, Rosemarie Fendel, Elisabeth Schwarz, Elisabeth Trissenaar, Josef Bierbichler, Traugott Buhre, Willfried Elste, Heinrich Giskes, Ernst Jacobi, Peter Kremer, Paulus Manker, Peter Roggisch, Fritz Schediwy und Siggi Schwientek. Dieses in Deutschland einmalige Mitbestimmungsmodell wurde unter dem Direktorium von Wilfried Minks und Johannes Schaaf in der Spielzeit 1980/81 fortgesetzt. Allerdings zerstritten sich die beiden. Als Wilfried Minks die Theaterbesetzung durch die RAF duldete, wurde das Haus am 21. März 1981 polizeilich geräumt. Das Mitbestimmungsmodell war damit beendet. 

Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“

Nach Adolf Dresen (1981-1985) wurde Günther Rühle (1985-1990) für fünf Jahre Intendant des Schauspiel Frankfurt. Kurz nach Amtsantritt geriet die für den 1. Oktober 1985 geplante Erstaufführung von Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ zum Theaterskandal. Es sollte ursprünglich am TAT aufgeführt werden; als dies scheiterte und auch die Inszenierung an der Alten Oper nicht zustande kam, entschied sich Rühle dazu, es im Schauspiel zu zeigen. Zuschauer besetzten die Bühne und hinderten die Darsteller am Weiterspielen, Vertreter der jüdischen Gemeinde entrollten ein Transparent, auf dem stand: „subventionierter Antisemitismus“, weil das Theaterstück als antisemitisch empfunden wurde. Die sich daran anschließende bundesweite Debatte markierte eine Zäsur im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland.

Dynamischer Wechsel

Auch in der Nachfolge von Rühle hatten es die beiden Häuser schwer, Ruhe in die Chefetage hineinzubringen. Nach weiteren Querelen riss Petra Roth 1996 die Kompetenz über die Kernbereiche der Kultur – Oper, Schauspiel, Kammerspiel, Ballett und das angehängte TAT – an sich. Unter den Bühnenintendanten Elisabeth Schweeger (2001-2009) und Oliver Reese (2009-2017) öffnete sich das Schauspiel zunehmend in Bezug auf das Repertoire. Schweeger spielte ein breites Programm, das auch philosophische Salons integrierte. Der Zuspruch vom Publikum war jedoch bescheiden. Unter Reese sprang die Zuschauerzahl dann nach oben. Sein Konzept: Er stellte die Schauspieler in den Mittelpunkt, kreierte selbst Stars. Seit 2017 nun hat Anselm Weber, der frühere Intendant der Sprechtheater in Essen und Bochum, die Intendanz inne. 

Oper Frankfurt

Bis zur Einführung des Mitbestimmungsmodells waren Schauspiel und Oper unter einer Intendanz. Ab 1972 wurde der Generalmusikdirektor zugleich Intendant der Oper, seit 1990 gibt es neben dem Generalmusikdirektor jeweils einen eigene Opernintendanz. Bernd Loebe leitet die Oper seit 2002 als Intendant. Die Oper Frankfurt mit der weltweit größten Drehbühne wurde viermal, zuletzt 2018, von der Zeitschrift Opernwelt als „Opernhaus des Jahres“ ausgezeichnet.

Mit den musikalischen Leitern des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters verbinden sich große Namen. Nach dem zweiten Weltkrieg haben Georg Solti, Christoph von Dohnányi, Michael Gielen, Sylvain Cambreling und Paolo Carignani als Generalmusikdirektoren der Oper Frankfurt das Frankfurter Musikleben und das Orchester nachhaltig geprägt. Seit September 2008 liegt die musikalische Leitung in den Händen von Sebastian Weigle.

Der Chor der Oper Frankfurt, seit 2014 unter der Leitung von Tilman Michael, gehört zu den großen Opernchören in Deutschland. Dadurch können die großen Chorpartien der Opernliteratur aus eigenen Kräften beziehungsweise gelegentlich auch mit Hilfe des Extra-Chores erfolgreich bewältigt werden. 

Ballett Frankfurt

Bis 2004 gab es auch eine Ballettkompanie an den Städtischen Bühnen, die sich durch die Direktoren wie John Neumeier (1969-1973), Alfonso Catá (1973-1976), Egon Madsen (1981-1984) einen Namen machte. Von 1985 bis 2004 war der amerikanische Choreograph William Forsythe zunächst künstlerischer Direktor, später Intendant des Ballett Frankfurt. Forsythe steht weltweit für zeitgenössischen Tanz von exponierter, wegweisender Qualität. Forsythe entwickelte für die Kompanie eine neue Struktur und ein eigenes Repertoire mit unverwechselbarem Stil. Damit etablierte sich das Ballett sowohl in Frankfurt als auch mit internationalen Gastspielen weit über die Grenzen Frankfurts hinaus. 

Die nach der Schließung der Sparte entstandene The Forsythe Company wurde vom Land Hessen, dem Freistaat Sachsen und von den Städten Dresden und Frankfurt zusammen finanziert. Die Company heißt seit 2015 Dresden Frankfurt Dance Company, in Frankfurt dient das Bockenheimer Depot als Spielstätte. Das Bockenheimer Depot dient seit Ende des Interims 1991, ausgelöst durch den Opernbrand, darüber hinaus auch dem Schauspiel und der Oper Frankfurt als experimentelle Spielstätte. 

Neue Formate

2007 hat Alexander Brell unter dem Co-Intendanten des Schauspiels Wilfried Minks den so genannten Jugendclub, das Laienensemble am Schauspiel Frankfurt, gegründet. Der Jugendclub will laut eigenen Darstellungen allen jungen Frankfurter mit jeglichem kulturellen Hintergrund einen Zugang zum Kunstraum Theater verschaffen: „Hier treten Menschen miteinander in Austausch, die sich sonst nicht begegnet wären. In eigenen Theaterprojekten auf verschiedenen Bühnen finden ihre Erfahrungen und Perspektiven den Weg in die Öffentlichkeit. In Zukunftslaboren, bei Theateraktionen in Schulen, im Stadtraum und in der aktiven Auseinandersetzung mit den Inszenierungen im Schauspiel Frankfurt werden Weichenstellungen infrage gestellt und neue Perspektiven entwickelt von heute für morgen.“

Politische Reaktion und unsere Erwiderung

Am 8. April reagierte Kulturdezernentin Ina Hartwig und Stabsstellenleiter Michael Guntersdorf mit ausführlichen Statements gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf unsere Petition, wobei sie mit irreführenden und auch unzutreffenden Behauptungen die von uns geäußerte Kritik zu entkräften versuchten. Hier die Erwiderung von Maren Harnack, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Oswalt und Carsten Ruhl als Initiatoren der Petition ‚Zukunft der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main‘//

Planungsprozess

Die Darstellung von Kulturdezernentin Ina Hartwig und Stabsstellenleiter Michael Guntersdorf, die Stadtverordneten seien vor ihrem Beschluss am 30.1. ausreichend fachlich informiert gewesen und die Öffentlichkeit habe Zugang zu allen Informationen gehabt, widerspricht unseren Recherchen. Für ihren Beschluss lagen den Stadtverordneten nur die 5-seitige Presseinformation sowie die dazugehörigen Präsentationsfolien der Pressekonferenz vom 23.1. vor, was auch mehrere Abgeordnete in der Debatte beklagten. Ein 16-seitiger Bericht der Stabsstelle wurde erst am 10.2.2020 nachgereicht. Der im Stadtparlament am 30.1.2020 verabschiedete Beschlussantrag weist eine Begründung von sieben Zeilen auf und wurde in den Fachausschüssen für Kultur und Planung nicht vorab behandelt, obwohl diese beide 14 Tage zuvor getagt hatten. Ein Antrag für ein transparentes Verfahren hatte die Römerkoalition gegen die Stimmen der Opposition bereits im April 2018 abgelehnt. Der Grundsatzbeschluss für das Milliardenprojekt war den Abgeordneten am 30.1.2020 kurz nach 10 Uhr bekannt gemacht worden und wurde in der nur sechs Stunden später beginnenden Stadtverordnetenversammlung verabschiedet.

Auch im Nachgang wurden die beiden maßgeblichen Abschlussberichte des Planungsteams und des Evaluierungsteams – anders als die Machbarkeitsstudie aus dem Jahr 2017 – nicht veröffentlicht. Während Guntersdorf in der Presse bekundet, „alle hätten jederzeit die Gelegenheit gehabt, Informationen anzufordern“ und die „Berichte können jederzeit in der Stabsstelle eingesehen werden“, hat er im Februar 2020 Fragen nach den Berichten „mangels einer Ermächtigungsgrundlage“ bzw. wegen zu großem Aufwand kategorisch abgewiesen. Eine erneute Anfrage ist bislang noch nicht beantwortet.

Es ist zweifelhaft, dass der Bericht der Stabsstelle von Februar 2020 umfassend und sachlich objektiv informiert. Der Leiter der Stabsstelle Michael Guntersdorf, zuvor verantwortlich für den Bau der Neuen Altstadt,  hat aus seiner negativen Einstellung zum bestehenden Theaterbau von 1963 nie einen Hehl gemacht. Das Glasfoyer sei – so Guntersdorf – ein „Zufallsprodukt“, das sich aus der Gebäudestruktur ergeben und nichts mit demokratischem Aufbau zu tun gehabt habe. Es sei „tagsüber ziemlich trostlos und gewinnt nur abends – wie bei einer Kneipe.“ Sein Fazit bereits im Juni letzten Jahres: „Die Kiste hat sich überholt.“

Architektur

Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass es den damaligen Architekten der Städtischen Bühnen trotz der schwierigen Ausgangslage gelungen war, das Nebeneinander aus Theaterruinen und Behelfsbauten in eine Geste des architektonischen Neubeginns zu verwandeln. Die eindrucksvolle Ineinanderblendung von öffentlichem und theatralem Raum inmitten der Stadt war Teil einer bewussten Planungs- und Gestaltungsstrategie. Vor allem aber ist sie bis heute Symbol einer Zeit, in der Bildungsinstitutionen noch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Die Platzierung von Bibliotheken, Museen, Theatern und Kunstwerken im Zentrum des städtischen Lebens war nach dem Krieg von der Überzeugung geleitet, niedrigschwellige Bildungsangebote seien für den Aufbau einer neuen Gesellschaft ebenso unverzichtbar wie eine freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die in der Politik heute weit verbreitete Ignoranz gegenüber den baulichen Hinterlassenschaften dieses Anspruches als „Zufallsprodukte“ ist gerade angesichts der massiven Bedrohungen, denen sich unsere demokratische Grundordnung seit einigen Jahren ausgesetzt sieht, alarmierend. Richtig wäre es hingegen, die Städtischen Bühnen als ein für die Moderne seltenes Lehrstück dafür zu betrachten, wie durch den überlegten Umgang mit dem Vorhandenen eindrucksvolle und zeitgemäße Architektur enstehen kann. Dieses Haus mit der tiefsten Sprechtheaterbühne der Republik, mit dem Foyer, aus dem der Blick auf die benachbarte Skyline der Finanzwelt fällt, mit den verwinkelten Gängen und unterschiedlichen Deckenhöhen, die sich nicht zuletzt aus dem Ineinander mehrerer Theaterbauten und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen ergeben, bildet als solches – buchstäblich verbautes – die Geschichte ab, die sich an diesem Ort abgespielt hat – mit ihren Höhepunkten in ästhetischer wie politischer Hinsicht, wie auch ihren Tiefpunkten. Wo immer große Arbeiten auf die Frankfurter Bühne kamen, waren diese aufs Engste mit diesem spezifischen Haus, seinen Möglichkeiten wie Grenzen, verknüpft. Die Chance, hieraus für die Zukunft der Städtischen Bühnen zu lernen, so der Eindruck, soll gar nicht erst ergriffen werden.

Denkmalschutz

Es ist vor diesem Hintergrund nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass im ganzen Verfahren Fragen des Denkmalschutzes ignoriert wurden. Weder im Bericht der Stabsstellen von Februar 2020 noch in der Machbarkeitsstudie von 2017 wird jemals das Wort Denkmalschutz oder die Namen der damaligen Architekten und Künstler namentlich auch nur erwähnt. Daher liegt der Schluss nahe, dass für die Gutachter das Bauwerk allein eine bautechnische Anlage ist. In welcher Uninformiertheit über denkmalpflegerische Belange das Stadtparlament seine Abrissentscheidung gefällt hat, verdeutlichen Aussagen der verantwortlichen Politiker. So stellt die Fraktion der Grünen im Römer im Februar 2020 fest: „Nach unserem Kenntnisstand steht lediglich das Foyer der Theaterdoppelanlage unter Denkmalschutz. Hier gibt es aber auch anderslautende Informationen, dass es überhaupt keinen Denkmalschutz gäbe.“ Für Planungsdezernent Mike Josef (SPD) basiert „die Grundlage seiner Arbeit und Entscheidung über das Gebäude […] auf der Tatsache, dass das Schauspielhaus oder Teile davon zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht unter Denkmalschutz stehen“ , obwohl Landesdenkmalpfleger Heinz Wionski bereits zwei Jahre zuvor gegenüber Mike Josef klarstellte, dass „das Opern- und Schauspielhaus, zumindest in Teilen, als Kulturdenkmal anerkannt“ sind. Die Hauptkonservatorin der Stadt Frankfurt Main, Andrea Hampel, räumte im Februar 2020 ein, dass auch ohne die bislang unterbliebene Aufnahme in das Denkmalverzeichnis „grundsätzlich ein denkmalrechtlicher Belang“ besteht. Über die Planungen der letzten zwei Jahre wurde das Landesdenkmalamt allerdings erst im Nachgang Anfang März 2020 informiert. Auch die Ergebnisse dieser Konsultation sind bislang nicht veröffentlicht.

Theaterkonzeption

Auch wenn Kulturdezernentin Ina Hartwig ausdrücklich bestreitet, dass sich „die Betrachtung weitgehend in bautechnischen Analysen erschöpft“ habe, so drängt sich doch genau dieser Eindruck auf. Der Planungsprozess zu Sanierung bzw. Neubau der städtischen Bühnen war nicht geprägt durch eine erkennbare Regie der Kulturpolitik. Obwohl 9 Jahre vergangen sind und etwa 8 Mio. Euro für die Planung ausgegeben wurden, gibt es kein Konzeptpapier, welches Ideen für das Stadttheater der Zukunft formuliert. Erst allmählich wurde im Verlauf des Prozesses die Diskussion begonnen, die an seinem Anfang hätte stehen müssen: Wie man sich das Zentrum des intellektuellen und künstlerischen Lebens, welches das Theatergebäude an diesem Ort darstellt, im 21. Jahrhundert vorzustellen hat. Die Entwicklung des Raumprogramms wurde der Unternehmensberatungsfirma M.O.O.CON übertragen, welche sonst vor allem Büroarbeitswelten und Firmensitze konzipiert und im Dialog mit den Städtischen Bühnen die grundlegende Nutzungskonzeption bereits 2017 festlegte. Während das Bestandsgebäude zur Disposition gestellt wird, soll der konzeptionelle Status quo für das Theater zukünftiger Generationen unreflektiert fortgesetzt werden, allenfalls mit quantitativen oder funktionalen Verbesserungen. Der Hauptfokus aller Untersuchungen damals wie jetzt lag auf Fragen von Kosten, Brandschutz, Logistik, Haus- und Bühnentechnik, Tragwerk und Arbeitsstättenrichtlinien. Zu diesem technokratisch anmutenden Vorgehen gesellte sich allein der politische Wunsch nach einem Leuchtturmprojekt, womit Kultur den Prämissen des Stadtmarketings unterworfen wird.

Wo also in Bezug auf die Architektur von einer Ignoranz gegenüber dem Bestehenden gesprochen werden muss, ist in Bezug auf die Theaterpraxis eine Ignoranz gegenüber Fragen nach dringend benötigten neuen Perspektiven zu konstatieren. Dabei wäre es gerade in Frankfurt, wo in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Theater neu und anders erfunden wurde und man sich nie einfach ans vermeintlich gute Alte klammerte, unbedingt notwendig, die Diskussion grundlegender zu führen: Ist es noch gerechtfertigt, eine einzige Kunstform gegenüber allen anderen derart zu privilegieren? Würde ein Stadttheater der Zukunft nicht viel eher der mit dieser Institution verbundenen Idee des 18. Jahrhunderts gerecht, wenn es zum Zentrum aller mit Öffentlichkeit verbundenen darstellenden Künste würde? Warum wird nicht – eine Idee Alexander Kluges aufgreifend – ein Neubau des Theaters mit dem ebenfalls anstehenden Neubau der Universitätsbibliothek verknüpft? Warum trennt man Theater baulich wie bei der Subventionierung von Popkultur und Literaturveranstaltungen ab? Müssten in Zeiten der Globalisierung und einer längst durch vielfältige Migrationen veränderten Gesellschaft, wie sie sich insbesondere in Frankfurt mit einem Anteil von Bürger*innen mit Migrationshintergrund zwischen 60 und 80 Prozent zeigt, nicht auch anderen Akteuren die Bühnen geöffnet werden? Weiter wäre die Frage zu stellen, ob Ensemble- und Repertoire-Theater heute noch zeitgemäße Formen der Führung einer solchen Institution sind und wie der Austausch des Hauses mit anderen Häusern im In- und Ausland vereinfacht und die Bühnen für Künstler aus dem globalen Süden geöffnet werden können.

Das Festhalten am Status quo wird am grotesken Umgang mit der Frage des Interims deutlich. Die Opernintendanz erwartet, im Interim den gegenwärtigen Spielbetrieb möglichst unverändert fortsetzen zu können. Um die Bühnenbilder des bestehenden Repertoires weiter unverändert nutzen zu können, bedarf es einer Drehbühne von 38,5 Meter Durchmessern, die in Kosten von € 70 Mio. für das Interim resultieren, welche wiederum von der Politik als nicht vertretbar gelten. Daraus folgt– bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten einhellig – die Auffassung: Es darf für die Oper kein Interim geben, deswegen muss die Oper auf einen neuen Standort umgesiedelt werden.  Dass viele Operngebäude in den letzten Jahrzehnten erfolgreich saniert worden sind und es weltweit bislang kein Operninterim mit einer Drehbühne gegeben hat, ist den Frankfurter Politikern vermutlich nicht bekannt.

Städtebau

Darüber hinaus ist die städtebauliche Dimension der mit dem Neubau oder der Sanierung verbundenen Fragen erst in rudimentären Ansätzen diskutiert worden. Der augenblicklich diskutierte Vorschlag, beide Häuser gegenüberliegend am Willy-Brandt-Platz zu platzieren, ignoriert etwa die Tatsache, dass gerade hier der Anlagenring für Fußgänger, Radfahrer und Benutzer der Tram als attraktiver Grüngürtel erfahrbar ist. Dass sich diese Situation durch den Bau eines Theaters in der Grünanlage erhalten, vielleicht garverbessern lassen könnte, ist eine Illusion, müsste hier doch neben dem Gebäude selbst auch die wenig ansehnliche Anlieferung untergebracht werden; ebenso problematisch ist die Vorstellung dass sich der Verlust an Grünfläche durch bessere Qualität ausgleichen lasse, ein Argument mit dem übrigens auch an anderer Stelle in Frankfurt dafür geworben wird, bisher öffentlichen Raum zu bebauen (Goetheplatz, Konstablerwache, Paulsplatz). Die Qualität der Grünflächen am Anlagenring ist hoch. Eine Intensivierung ihrer Nutzung durch bauliche Interventionen führt nicht zu ihrer Aufwertung, sondern beschädigt ihre Aufenthalts- und Nutzungsqualitäten.  Das Gegenüber von Oper und Schauspiel, das die Bebauung des Anlagenrings mit sich brächte, scheint für viele ohne weitere Diskussion auch für den Willy-Brandt-Platz vorteilhaft, weil dann ein klar gefasster Raum entstehe. Dass Stadträume grundsätzlich besser seien, wenn sie „gefasst“ sind, und dass es darum vorteilhaft wäre, den Willy-Brandt-Platz zum Anlagenring hin zu bebauen, ist eine ideologisch gefärbte Behauptung – denn die Verbindung von städtischem Platz und landschaftlich geprägtem Park folgt hier einer klaren und auch heute noch erlebbaren stadträumlichen Konzeption, in der das Wolkenfoyer das Ende des Anlagenrings markiert und sich gleichzeitig zu diesem hin öffnet. Stattdessen auf das städtebauliche Repertoire des neunzehnten Jahrhunderts zurückzugreifen, dokumentiert einen Mangel an historischem Verständnis und zeigt einmal mehr, wie sehr das baukulturelle Erbe der Nachkriegszeit unter Druck steht, nicht nur die Gebäude, sondern auch die öffentlichen Räume. 

Unsere Antwort ist ausdrücklich als Aufruf gedacht, die dringend notwendige Debatte über das im Zentrum der Stadt neu zu definierende Gebäude für Theater und Oper im 21. Jahrhundert nicht zu früh zu beenden. Sie hat gerade erst begonnen und wird in dem Maß zu einem guten Ergebnis führen, in dem sie als Chance begriffen wird, der städtischen Öffentlichkeit das neue Zentrum ihres Kulturlebens zu geben, das sie verdient.

Die Initiatoren fordern als konkrete Schritte:

  1. Unverzügliche Veröffentlichung der Abschlussberichte des Planungs- und Evaluierungsteams
  2. Eine unabhängige Kommission von Theaterproduzenten und Theaterrezipienten, welche in einem öffentlichen Dialog eine Konzeption entwickeln, wie die Spielstätte in Zukunft entwickelt werden soll. Für welches Publikum welche Art von Theater in welchen Räumen und mit welchen Mitteln? Welche Rolle können und sollen die städtischen Bühnen für die Stadtgesellschaft in Zukunft spielen?
  3. Eine zeitnahe Untersuchung und verbindliche Klärung des Denkmalwertes der Theateranlage einschließlich der Kunst am Bau.
  4. Eine Untersuchung, ob mit einem Teilneubau bei (weitgehendem) Erhalt der denkmalwerten Bauteile eine funktionale Spielstätte zu vertretbaren Kosten und guten räumlichen Qualitäten erreichbar ist.
  5. Eine Klärung der Grundstücksfrage für das in allen sinnvollen Szenarien ausgelagerte Produktionszentrum und Einleitung des Planungs- und Entscheidungsprozesses hierzu.
  6. Variantenüberprüfung für ein Operninterim sowohl bzgl. der Anforderungen wie der Lösungen.

Die Genese der Städtischen Bühnen nach 1945

Innenraum Schauspiel Frankfurt, Foto: Alexander Paul Englert

Der langjährige Kulturdezerent der Stadt Frankfurt Main, Hilmar Hoffmann, schrieb 2013 zum 50-jährigen Jubiläum einen Rückblick auf die Entwicklung der Städtische Bühnen Frankfurt siet dem Kriegsende 1945.//

Das 50-jährige Jubiläum der Theaterdoppelanlage hat eine Vorgeschichte, eine Genese der Selbstfindung unserer Städtischen Bühnen. Denn das Frankfurter Theaterleben ist nicht erst mit der Einweihung dieses architektonischen Monstrums Theaterdoppelanlage erblüht. Gleich im ersten Jahr nach der wohl verhängnisvollsten Periode der deutschen Geschichte wurden in unserer zu 70 Prozent zerstörten Altstadt schon wieder Theater und Oper angeboten. In der Trostlosigkeit unserer Ruinenlandschaft lechzten die Menschen nach kulinarischer Entspannung und, wie Brecht es formulierte, nach Vergnügung, der »nobelsten Funktion des Theaters«. Außer ihrem Glücksverlangen wollten die auch metaphysisch obdachlos gewordenen Menschen vor allem aber Botschaften zur Neuorientierung und Lebenszuversicht hören. 

Schauspieler und Opernsänger, Tänzer und Musiker hatte Toni Impekoven als erster Intendant der Nachkriegszeit schon im Herbst 1945 (!) zusammengetrommelt und ein erstaunlich erstklassiges Ensemble der ersten Stunde geformt. Im großen Saal der Frankfurter Börse wie auch in der Kleinen Komödie in Sachsenhausen brillierte Oscar Werner als Hamlet, und Paula Wessely beeindruckte in der Titelrolle von Henrik Ibsens DIE FRAU VOM MEER. Mit der ihm auf den Leib geschriebenen Rolle des Fliegergenerals Harras in DES TEUFELS GENERAL stieg 1947 auch Martin Held in Frankfurt wie eine Rakete am Theaterhimmel auf. Carl Zuckmayers Stück über das Schicksal des »Helden der Lüfte« Ernst Udet wurde mit über 3000 Vorstellungen das erfolgreichste Stück auf Deutschlands Nachkriegsbühnen. Autoren und Regisseure des Aufbruchs reüssierten damals noch ohne aufwendigen Budenzauber, sie vertrauten ihrer komödiantischen Natur und ihrem dramatischen Temperament und setzten auf die kathartische Wirkung der Sprache. 

Im großen vorläufigen Asyl des Rundfunk-Sendesaals überzeugte gleich in der Spielzeit 1946 /47 Karl Heinz Stroux mit Eugene O’Neills stärkstem Stück TRAUER MUSS ELEKTRA TRAGEN, eine die Gemüter und Herzen aufwühlende theatralische Option auf Großstadtniveau verlieh dem antiken Stoff eine Aura der Zeitlosigkeit. In den Feuilletons wurde die Premiere in über 40 Zeitungen als exemplarisch für einen Neubeginn des Theaters in Westdeutschland gewürdigt. Impekovens Repertoire berücksichtigte besonders Stücke aus Frankreich, England und denUSA, die im Nazireich verboten waren. Gespielt wurde in der schon 1946 zum Kleinen Komödienhaus umgebauten Turnhalle in der Sachsenhäuser Veitstraße, wo Impekoven-Nachfolger Richard Weichert das Haus zum beliebten Spielort zu machen verstand.  An die alte Tradition der Römerberg-Festspiele anknüpfend, wurde auch im Klostergarten der Karmeliter unter offenem Himmel Theater gespielt. Im Sommer 1946 inszenierte hier Robert Michael Hofmannsthals JEDERMANN mit deftigen Anspielungen an den Zeitgeist. Im Börsensaal brachte Fritz Rémond Thornton Wilders UNSERE KLEINE STADT mit ironischen Verweisen auf Frankfurt auf die Bühne. 

Trotz Währungsreform und einer den Neubeginn begleitenden Euphorie trieben die städtischen Körperschaften noch ohne einen verantwortlichen Kulturdezernentenden Theaterbetrieb in eine schwere Krise. Ende 1948 wurde 150 Bühnenmitgliedern zum 31. August 1949 die Nichtverlängerung ihrer Bühnennormalverträge angekündigt. Gleichwohl wurden zwei Monate später zwei Millionen Mark in den Etat eingesetzt, um das kriegszerstörte Schauspielhaus aus dem Jahr 1902 wieder aufzubauen. Aber die Euphorie hatte nur kurze Beine. Aus dem Römer verbreitete die Hiobsbotschaft Entsetzen, dem Theater werde Ende August 1949 endgültig der Garaus gemacht; »die Sicherung der nackten Existenz unserer Mitbürger […], in erster Linie die Beschaffung von Wohnraum, die Wiederherstellung von Schulen, Krankenhäusern«, sei lebensnotwendiger als Investitionen in eine flüchtige Theaterkultur. 

Jetzt schlug die Stunde der Kulturbürger, die ihr gewohntes Theaterbedürfnis einklagten, um in der Goethe-Stadt wieder ein lebenswerteres Leben zu führen. Dieser Anspruch generierte auch den entscheidenden Impuls, den bis heute wirksamen Patronatsverein zu gründen: Ja, verachtet mir die Bürger nicht, hatte schon Hans Sachs in den MEISTERSINGERN den Politikern mit auf den Weg gegeben. Bevor 1951 Harry Buckwitz nach Frankfurt kam und lange blieb, hatte bereits der kongeniale Heinz Hilpert als »Chefintendant« 1947 in der Stadt angeheuert, um bei den Städtischen Bühnen frischen Wind unter die Flügel des Neuanfangs zu blasen. Gleich mit seiner psychologisierenden Inszenierung von Abgründen der menschlichen Seele in DES TEUFELS GENERAL beglaubigte Hilpert sein Renommee als virtuoser Schauspielflüsterer. Mit Carl Zuckmayers zeitdiagnostischem Stück mit jener prinzipiellen Fragestellung, wem denn der Mensch zu gehorchen habe, dem eigenen Gewissen oder dem Soldateneid, hatte er dem Schrecken des Naziregimes exemplarischen Ausdruck verliehen. 

Auch mit Thornton Wilders WIR SIND NOCH EINMAL DAVONGEKOMMEN blieb Hilpert den kollektiven Befindlichkeiten der Kriegsgeneration auf den Fersen. Hilpert wollte vor aller Welt dokumentieren, wie über das Medium Theater ein freier Geist durch das nun wieder demokratische Deutschland weht. Von ignoranten Stadtpolitikern kujoniert, stieg er tief enttäuscht im April 1948 vorzeitig aus dem Vertrag aus. In einer Stadt, deren banausisches Politikerpersonal über die Ästhetik obsiegen wollte, mochte er sich zu weiteren Konzessionen nicht korrumpieren lassen.  Unter Impekoven, Weichert und Hilpert hatten sich in den ersten zwei, drei Jahren später berühmt gewordene Theaterleute engagieren lassen, um die Herzen der vom Krieg gebeutelten Frankfurter zu erwärmen und deren hedonistische Erwartungen zu befriedigen: Wolfgang Büttner, Julia Costa, Ellen Daub, Konrad Georg, Martin Held, Siegfried Lowitz, Richard Münch, Otto Rouvel oder Solveig Thomas. Sie bescherten einem auch kulturell ausgehungerten Publikum mit ihrer hohen Kunst unvergessliche Stunden.  Auch die Oper ließ schon bald nach der Kapitulation wieder von sich hören. Musikdirektor Bruno Vondenhoff hatte Ende 1945 unter unzumutbaren Bedingungen bereits ein neues Orchester organisiert. Auch den geschrumpften traditionsreichen Cäcilien-Chor hatte er wiederbelebt. Damals mussten die Sänger noch Briketts oder Holzscheite zu den Proben mitbringen, damit ihre Stimmbänder nicht einfroren. 

Sozusagen aus dem Nichts ging gleich die erste Opernpremiere TOSCA erfolgreich über die Bühne. Die Premiere am 26. September 1945 dirigierte Ljubo mir Romansky. Bevor er 1946 an die Staatsoper Wiesbaden wechselte, studierte er fünf Opern und Operetten ein, u. a. die FLEDERMAUS mit der damals noch unbekannten Christa Ludwig als Prinz Orlofsky. Er beherrschte die hohe Kunst, im Seichten der Operette nicht zu ertrinken. Für die erste offizielle Spielzeit 1945/46 machte Bruno Vondenhoff, ein Feuerkopf aus dem Geiste Beethovens, dessen FIDELIO am 9. Dezember auf den Nudelbrettern der Behelfsbühne im großen Börsensaal virtuos zum Ereignis. Mit der Neuinszenierung des FIDELIO feierte die Oper Befreiung aus politischer Unfreiheit, Befreiung aus Kriegsnotstand und von der Knechtschaft der eigenen Untätigkeit. Nach der Stunde Null bekam diese FIDELIO-Interpretation symbolische Bedeutung in ihrer gelungenen Reflexion über die jüngste deutsche Geschichte, über die heillose Verlassenheit des Menschen. 

In dieser ersten Phase der Renaissance von Frankfurts Oper entdeckten die Menschen das Musiktheater als Surrogat des Glücks, das ihnen zwölf Jahre lang verweigert worden war. Vondenhoff hoffte, den Menschen mit seinem Repertoire zu vermitteln, was Hegel allgemeinästhetisch »das sinnliche Scheinen der Ideen« genannt hatte: FIDELIO mit der Idee der Freiheit oder TOSCA mit der negativen Idee des Verrats. Weil Bruno Vondenhoff die Oper nicht mit einer bürgerlichen »Erholungsstätte« (Adorno) verwechselte, machte er außer mit Klassik auch mit jenen Neutönern Furore, die sich von der Tonalität längst verabschiedet hatten: 1947 mit Paul Hindemiths MATHIS DER MALER, 1948 mit Heinrich Sutermeisters ROMEO UND JULIA, mit seiner furiosen Deutung von Arthur Honeggers JOHANNA AUF DEM SCHEITERHAUFEN und den Aufführungen von Gian Carlo Menottis DER KONSUL oder mit Ernst Křeneks DAS LEBEN DES OREST.

Letztere Oper überzeugte mit 40 Vorhängen bei der Premiere auch das Feuilleton. Vondenhoff setzte frühe Meilensteine auf dem langen Kärrnerweg bis zur erstmaligen Verleihung des Titels »Opernhaus des Jahres« im Jahr 1996. Vondenhoff gelang es sogar, keine Geringeren als Walter Felsenstein, Otto Schenk und Wieland Wagner als Regisseure ans Haus zu holen. Bayreuth-Erneuerer Wieland Wagner riss mit Verdis OTELLO das Publikum zu wahren Beifallsstürmen hin. Mit Christa Ludwig führte er Mendelssohns Oratorium ELIAS in den Erfolg. Mit ihrer zauberischen Aura schmetterten auch die berühmten Sängerinnen Agnes Giebel und Marga Höffgen ihre Arien in die akustischen Löcher der Provisorien, wo sie oft wie in einer Art Bermuda dreieck verhallten. Ohne Bruno Vondenhoffs energischen Einsatz wäre der Wiederaufbau des 1902 im Jugendstil erbauten Schauspielhauses, vorerst sowohl für die Zwecke des Musiktheaters als auch des Schauspiels, nicht so schnell gelungen. Das mit drei Rängen und 1450 Plätzen wiedererstandene Große Haus mit erhaltener historisch-schöner Frontfassade und domartiger Kuppel wurde am Tag vor Heiligabend 1951 unter der musikalischen Leitung von Bruno Vondenhoff mit DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG feierlich eröffnet. Nietzsche hatte nicht nur mit Blick auf die Partie des Beckmessers den Ausdruck »superlative Musik« für die MEISTERSINGER geprägt. Den Rezensionen zufolge bescherte Bruno Vondenhoff dem Publikum mit seinem LOHENGRIN ein Fest der Stimmen. Hausregisseur Werner Jacob reduzierte den schönen Sagenhelden aus Brabant zur schlichten Chiffre, die in der lichten A-Dur-Welt des Grals nach glücklichen Flitterwochen mit dem Hinweis »Nie sollst Du mich befragen« wieder von dannen zieht. 

Der 1951 von Oberbürgermeister Walter Kolb engagierte neue Generalintendant Harry Buckwitz sollte Vondenhoff rasch den Laufpass geben, um mit dem berühmteren Georg Solti als neuem Opernchef das Ansehen der Stadt zu mehren. Walter Kolb würdigte Vondenhoff beim Abschied mit der abgenutzten Formel, er habe »sich um die Stadt verdient gemacht«. Ein viel zu schmales Wort für einen großen Künstler und Organisator der Wiederauferstehung unseres Musiktheaters.  Über Höhen und Tiefen von Frankfurts Schauspiel, Musiktheater und Ballett haben die Autoren dieses Bandes eindrucksvoll ihr reiches Erfahrungspotenzial ausgebreitet. Ich beschränke meine Erinnerungen deshalb auf die politischen Aspekte des Theaters während meiner 20-jährigen Verantwortung für diesen Kernbereich Frankfurter Kulturpolitik. 

Mitbestimmung im Schauspiel

Im ersten Gespräch mit dem neuen Oberbürgermeister Walter Möller, der mich 1970 aus Ober hausen nach Frankfurt an seine Seite holte, war die Einführung der Mitbestimmung im Schauspielhaus eines seiner Essentials für den neuen Kulturdezernenten. Es galt, die hierarchische Struktur, »Generalintendant « genannt, durch eine vom Magistrat abgesegnete Mitbestimmung zu ersetzen, die alle Fragen mitentscheidet, die bisher vom »General« ohne Mitwirkung des künstlerischen Personals autokratisch geregelt wurden: Spielplangestaltung, Besetzungen, Engagements und Nichtverlängerungen, Sonderurlaube usw. Statt eines alles entscheidenden Generalintendanten sollte ein Dreierdirektorium mehr Transparenz garantieren. Weil dieses Modell mit dem amtierenden »General « Ulrich Erfurth nicht zu realisieren war, musste ich gleich in der ersten Woche nach meiner Wahl ein

Gespräch mit Ulrich Erfurth führen. Sein Vertrag hätte sich sonst automatisch verlängert, und die Mitbestimmung wäre ad calendas graecas vertagt worden. Als ich Ulrich Erfurth mit der Entschlossenheit auch des Oberbürgermeisters das Ende seiner Dienstzeit verkündete, war sein Erschrecken größer als das des Papageno beim Anblick des Monostatos. Parallel mit der gleichzeitigen Entkoppelung von Oper und Schauspiel ging in Frankfurt die Aufkündigung der anachronistischen Machtvertikale einher.  Für das Schauspiel wurde die Mitbestimmung per Magistratsbeschluss Gesetz wie für die Oper das abgemilderte »Mitwirkungsdekret«. Die Sänger wollten nicht, dass ein Kollektiv darüber entscheidet, ob die Stimmbänder eines Tenors bei der Stretta im 3. Akt des TROVATORE wackeln und sich in die Kopfstimme fl üchten oder ob ein Bass den basso profondo des Sarasto in den Orkus gurgeln sollte. Darüber sollte nach wie vor gefälligst allein der Chef entscheiden. Die Mitbestimmung im Schauspiel sollte keine Episode werden. Sie war als Zäsur des Aufbruchs für alle deutschen Theater mit Erfolg in Szene gesetzt worden, getreu der Maxime Brechts, dass »das moderne Theater […] nicht danach beurteilt werden [muss], wieweit es die Gewohnheiten des Publikums befriedigt, sondern danach, wieweit es sie verändert.« Die jetzt autonome Oper wurde künftig vom bisherigen Generalmusikdirektor Christoph von Dohnányi geleitet, das Schauspiel von einem Dreierdirektorium mit Peter Palitzsch, bis dahin Schauspieldirektoram Staatstheater Stuttgart. Fast das ganze Stuttgarter Ensemble, mit dem ich in der Landeshauptstadt viele Nächte lang Gespräche über die Modifikationen der Mitbestimmung geführt hatte, war mit Horst Laube, Hans Neuenfels und Niels-Peter Rudolph Peter Palitzsch an den Main gefolgt. 

Von Erfurths Ensemble wurden nur jene sechs Schauspieler übernommen, die sich für die Mitbestimmung und für das Credo des Brecht-Schülers Palitzsch erwärmen ließen: »Der Gesellschaft muß klar sein, daß sie nicht dafür zahlt, daß wir sie verherrlichen, sondern daß wir einen demokratischen Prozeß aufrechterhalten, das heißt, alles bekämpfen, was zu Entdemokratisierung, zu Starre und Niveauschwundführen kann.« Als ewiger Pfadfi nder folgte Palitzsch unbeirrbar seiner Grundspur des Humanismus. Die ersten Proben aufs Exempel schienen die Notwendigkeit der Mitbestimmung zu beglaubigen: In Edward Bonds LEAR wurde in der Regie von Peter Palitzsch aus der Titelfigur nicht wie bei Shakespeare »jeder Zoll ein König«. Palitzsch hatte bei Bond ja nicht ein literarisch besseres Stück gefunden, sondern den zeitgemäßen Bezug. Oder: IM DICKICHT DER STÄDTE. Mit diesem wüsten dialektischen Lehrstück Brechts gegen das Kapital brachte Regisseur Klaus Michael Grüber die konservativ gestrickten Abonnenten gehörig in Rage. In dieser atemberaubenden Aufführung in der Kulisse von Eduardo Arroyo bestätigte das sich neu erfindende Schauspiel Frankfurt mit ästhetischen Mitteln seinen Auftrag, das sonst nicht Fassbare bewusst zu machen. In einer lauten Zeit machte Grüber Skandal – durch Stille.

Die radikalen Anfänge des mitbestimmten Theaters kosteten uns schließlich 4000 (!) Abonnenten. Gleichwohl hielt der Magistrat durch, schließlich waren die Feuilletons ausnahmslos auf unserer Seite. Der Neuanfang des Palitzsch-Teams ist dadurch zusätzlich erschwert worden, dass der Kämmerer knallhart die drastische Erhöhung der Eintrittspreise verfügte, ohne das mitbestimmende Ensemble vorher befragt zu haben. Schließlich wollte die neueMannschaft mit für jedermann erschwinglichen Preisen alle erreichen und nicht nur jene, die es sich schon immer leisten konnten. Das Ensemble protestierte einen Monat lang jeden Abend lautstark vor dem Vorhang. Der Casus kulminierte in dem demonstrativen Akt, dem Kulturdezernenten das Mitbestimmungspapier mit der Aufforderung vor die Füße zu knallen, sich »damit den Arsch abzuwischen «, denn das Papier sei ja »nicht erkämpft, sondern bloß geschenkt worden und deshalb wertlos « (Neuenfels). 

Nach der Ära Palitzsch hat es im Schauspiel bis heute leider viele Stabwechsel gegeben, ein Dilemma, an dem die Kulturdezernenten nicht ganz schuldlos waren: Wilfried Minks und Johannes Schaaf (1980 / 81), Adolf Dresen (1981 – 1985), Günther Rühle (1985 – 1990), Hans Peter Doll (1990 /91), Peter Eschberg (1991 – 2001), Elisabeth Schweeger (2001 – 2009), Oliver Reese (seit 2009). Eine Phalanx höchst unterschiedlicher Temperamente, Stile und Intellektualitäten.

Petra Roth ernennt sich selbst zur Bühnendezernentin 

Eine energische Petra Roth verordnete den StädtischenBühnen ein Ende des Kompetenzwirrwarrs. Am 24. Oktober 1996 entzog sie der Kulturdezernentin Linda Reisch kurzerhand die Kompetenz über den Kernbereich der Frankfurter Kultur: Das Kommando über Oper, Schauspiel, Kammerspiel, Ballett und das angehängte TAT übernahm sie als neue Bühnendezernentin höchstselbst, eine einmalig drakonische Konsequenz in der Geschichte der bundesdeutschen Theaterrepublik. Nein, die Kulturdezernentin ist aus Selbstachtung nicht zurückgetreten.

In der Chefetage gab es Querelen zwischen dem zum Geschäftsführenden Intendanten aufgestiegenen früheren Ballettgeschäftsführer Martin Steinhoff und Opernchef Sylvain Cambreling, der ihm mit seiner Machtfülle als eine Art Gottseibeiuns im Nacken saß; Letzterer gab zu Protokoll, er hätte nie in Frankfurt angeheuert, wäre er über die Fesseln dieser neuen Struktur vorher in Kenntnis gesetzt worden. Statt auf den »Brettern, die die Welt bedeuten«, fand die Entfesselung des Individuums hinter den Kulissen statt. Nachdem Cambreling entnervt einfach früher aus seinem Vertrag ausgeschieden war, erteilte er der Oberbürgermeisterin und der Kulturdezernentin striktes Hausverbot für seine Abschiedsvorstellung und die anschließende Fete. Das Satyrspiel war endgültig in eine Provinzposse abgeglitten,als die Kulturdezernentin den in prekäre Bedrängnis geratenen Bühnenintendanten die Anwaltskosten für ihre Mandate gegen ihren Arbeitgeber, den Magistrat von Frankfurt, in Höhe von exakt 243 000 Mark aus dem Steuersäckel zurückerstattete. Dieser im Parlament einmütig missbilligte Casus veranlasste die Oberbürgermeisterin, endgültig die Reißleine zu ziehen und die Dezernentin abwählen zu lassen, einstim mig quer durch alleFraktionen. Mozarts Librettist Lorenzo Da Ponte hätte dieses pointenreiche Stück nicht besser erfinden können. 

Der Streit um Fassbinders DER MÜLL, DIE STADT UND DER TOD 

Kein Frankfurter Theaterereignis hat die Gemüter mehr aufgewühlt und die Öffentlichkeit stärker polarisiert als die Inszenierung des Fassbinder-Stücks DER MÜLL, DIE STADT UND DER TOD im Jahr 1985. Zwei Sondersitzungen des Stadtparlaments und eine in der Jerusalemer Knesset haben den Streit in die politische Arena verlegt. Nachdem der Versuch des Alte-Oper-Managers, das brisante Stück mit Schauspielern des Hebbel-Theaters Berlin zu besetzen, im Aufsichtsrat gescheitert war, kündigte der neue Schauspielintendant Günther Rühle das Fassbinder-Stück im Spielplan seines Theaters an. Rühle wollte den »fatalen Verdacht« widerlegen, in der liberalen Paulskirchenstadt werde Zensur geübt. Nachdem ich bei den Proben in den Kammerspielen hospitiert hatte, konnte ich Rühle in seiner unbeirrbaren Konsequenz guten Gewissens den Rücken stärken und den Antisemitismusvorwurf aus eigener Anschauung Lügen strafen. Auch in dem einstündigen Dreiergespräch zwischen OB Walter Wallmann, Günther Rühle und Kulturdezernent konnte der Oberbürgermeister den Intendanten nicht bewegen, das Skandalon aus dem Spielplan zu nehmen. Gegenüber Wallmann beharrte auch der Dezernent auf Artikel 5 des Grundgesetzes mit dem ultimativen Satz, »eine Zensur findet nicht statt«. 

Die Premiere des Fassbinder-Stücks am 31. Oktober 1985 hat nicht stattgefunden. Repräsentanten der Jüdischen Gemeinde hatten mit Ignatz Bubis gewaltlos die Bühne besetzt, der Saal war mit 50 Gegnern des Stücks überbesetzt, die mit originalgetreu nachgedruckten Eintrittskarten Einlass gefunden hatten. Die Diskussion mit Befürwortern wie Daniel Cohn-Bendit und Mischa Brumlik war heftig bis aggressiv, lief aber auch ohne Mediator nie aus dem Ruder. Als der Uhrzeiger auf 24 Uhr rückte, frohlockte Regisseur Dietrich Hilsdorf in der letzten Reihe zu früh: »Jetzt wird gespielt.« Der Kulturdezernent in der ersten Reihe neben Intendant Rühle wandte sich in appellativem Ton ans Publikum: »Der Magistrat zieht hiermit das Hausrecht an sich und erklärt die Veranstaltung für beendet.« Ende der Vorstellung. Am 4. November 1985 setzte Intendant Rühle für die internationale Presse eine sogenannte Wiederholungsprobe an, die das Schauspiel Frankfurt von dem Vorwurf einer »antisemitischen Handlung « freisprechen sollte. Fast alle Feuilletons haben die Hilsdorf-Inszenierung vom Antisemitismusvorwurf entlastet. 

VIELEN DANK, SIE WERDEN VON UNS HÖREN 

Das Frankfurter Theater hat nach 1945 vom selbstverständlichen Recht der Theaterfreiheit heftigen Gebrauch zu machen gewusst. Das hat manchem Stadtverordneten oder auch dem einen oder anderen abonnierten Philister nicht immer nur gefallen. Zum Beispiel die Proteste des Palitzsch-Ensembles gleich bei seiner ersten Premiere, Edward Bonds LEAR, gegen die Erhöhung der Eintrittspreise damals noch durch den SPD-Magistrat, jeweils abends auf der Vorbühne, bevor der Vorhang hochging. Walter Wallmann hatte schon in den Wahlkampfwirren im Frühjahr 1977 gegen die Protestaktion der Mimen protestiert. Als zwei von Willy Brandts Radikalenerlass betroffene Lehrerinnen der Ernst-Reuter-Schule in der Nordweststadt wegen Kommunismusverdachts ihren Beam tenstatus verloren, entstand über Nacht die Kollektivarbeit VIELEN DANK, SIE WERDEN VON UNS HÖREN. Die Texte der Schauspieler enthielten Assoziationen zu Begründungen, mit denen im Dritten Reich auch den Vätern dieser beiden Lehrerinnen wegen DKP-Mitgliedschaft die Lehrerlaubnis entzogen worden war, zum Teil sogar mit analogen Text-Akkorden bis in die Interpunktion hinein. 

Nachdem das in der Schulaula mehrfach öffentlich aufgeführte Stück die Besucherneugier im Norden der Stadt gestillt hatte, sollte VIELEN DANK, SIE WERDEN VON UNS HÖREN in den regulären Spielplan des Schauspielhauses aufgenommen werden. Als die CDU diese »mit Radikalen sympathisierende Aufführung « per Magistratsabschluss zu indizieren hoffte, konnte der Kulturdezernent diesen Zensurversuch mit Hilfe des Oberbürgermeisters verhindern. Das Ensemble wurde aber gebeten, jeweils eine anschließende Diskussion anzukündigen, damit jeder die Gelegenheit bekäme, seine Einwände »gegen diese Zumutung« (FDP) unmittelbar geltend zu machen. Jenseits der brisanten Aktualität war dieses zeitübergreifende Stück eines der Agitation gegen die Arroganz der Macht schlechthin. 

Peter Palitzsch war es immer darum gegangen, Bedingungen dafür zu schaffen, dass wir mit den Mitteln des Theaters einen demokratischen Prozess aufrechterhalten, also alles bekämpfen, was zur Entdemokratisierung führen kann. Für Palitzsch war Aufklärung immer noch ein unvollendetes Projekt der Demokratie. Unter dieser Prämisse wollte das Ensemble nicht nur mit relevanten Stücken des Repertoires auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen seismografsch reagieren. Man wollte auch mit selbst verfassten Stücken gegen brisante demokratiefeindliche Ereignisse aktuell und spontan zu Felde ziehen. Auch diese handfeste politische Theater- Demonstration mit großer Resonanz in ausverkauften Vorstellungen schien nicht unbedingt geeignet, den Sympathiewert beim neuen Oberbürgermeister zu steigern. Gleichwohl mischte sich Walter Wallmann auch beim Theater, außer beim Fassbinder-Stück, nicht ein.

Wallmann wollte kein politisches Theater 

Das Mitbestimmungstheater des Brecht-Schülers Peter Palitzsch irritierte Walter Wallmanns traditionellen Theaterbegriff sowohl ästhetisch als auch inhaltlich. Wallmann unterstellte Palitzsch, mit den Subventionen des Steuerzahlers die Welt verändern zu wollen. Der Asket der Bühne entsprach nicht den auf größere Opulenz gerichteten Erwartungen des Oberbürgermeisters und wurde in der damals noch grassierenden Linksphobie der CDU als Bedrohung empfunden. Palitzsch wollte aber nicht die Welt verändern; für ihn war Theater vielmehr ein Instrumentder Emanzipation und ein Ort der Freiheit. Der Respekt vor dem Individuum gehörte für ihn zum Erbeder Antike wie auch der Aufklärung. Als man für Palitzsch nach seinem Abgang die Goethe-Plakette beantragte, wurde diese Ehrung abgelehnt. Aus der politischen Perspektive Wallmanns war die Palitzsch-Bühne politisch vermintes Gelände. 

Das Palitzsch-Nachfolgerduo Wilfried Minks und Johannes Schaaf fand der OB nicht nur auf Anhieb sympathisch, er konnte sich auch mit deren Vorliebe für ein vorwiegend klassisches Repertoire befreunden. Im Vollgefühl seiner neuen Gestaltungsmacht gab Wallmann auch der Umrüstung des Spielorts mit einer Millionen Mark teuren Hydraulik seinen Segen. Mit deren Hilfe ließ sich der Zuschauerraum per Knopfdruck in eine Bühne und diese in einen Zuschauerraum verwandeln. Für die Premiere dieses technisch aufwendigen Funktionstausches hatten die beiden Protagonisten Georg Büchners DANTONS TOD ausgewählt. Als hinter einem Gazevorhang hoch über der Bühne als Schatten riss ein überdimensionaler Penis zum Vollzug ansetzte, irritierte Walter Wallmann und seine Herzdame Margarethe mehr noch als das Corpus Delicti die fröhliche Reaktion der Premierengäste über das parodistische Element eines avancierten Spieltriebs. Nach dieser »Provokation unter der Gürtellinie« betrat Wallmann das Schauspielhaus erst wieder, als 1981 mit Adolf Dresen vom Wiener Burgtheater ein Intendant gewonnen wurde, der mit der Hydraulik auch die Grobreize der beiden Vorgänger zum à fonds perdu erklärte und bei demsich inszenatorische Willkür an klassischen Stücken in Grenzen hielt. 

Wallmanns bald erlahmte Sympathie für Minks war aber auch der Tatsache geschuldet, dass dieser der Besetzung des Schauspielhauses durch Mitglieder der RAF freundlich zugewinkt hatte. Sein inzwischen mit ihm zerstrittener Partner Johannes Schaaf hatte zusammen mit dem Kulturdezernenten im Theater die Stellung gehalten. Der wintergemäß frierenden RAF-Nachhut öffnete Minks zusammen mit seiner Frau, der Schauspielerin Ulla Berkéwicz, immer wieder die Türen ins gut geheizte Theater innere, bis wir einfach die Heizung abschalteten und die Besatzer zum freiwilligen Rückzug bewegten. In Walter Wallmanns neun Jahren erlebte er vier verschiedene Theaterleitungen: Nach Peter Palitzsch und der vorzeitigen Auflösung des Vertrags des im Clinch liegenden Duos Minks / Schaaf hatten wir Adolf Dresen vom Wiener Burgtheater geholt. Der hielt es mit Arthur Miller, dass in einer schlechten Welt das Theater sich für den Ruf nach einer besseren zur Verfügung halten müsse. Nachdem Dresen wegen Krankheit vorzeitig ausgeschieden war, konnte als Nachfolger mit Günther Rühle ein Theaterkritiker von Rang gewonnen werden. Rühle verdankten wir auch das mutige Engagement von noch nicht abgestempelten Regietalenten wie Einar Schleef, Dietrich Hilsdorf oder Michael Gruner, die beileibe keine Chorknaben waren.

Der Opernbrand

Ein mit 50 000 Mark von den DDR-Behörden freigekaufter »Regimegegner« steckte am 12. November 1987 unsere Oper in Brand. Bei seiner Vernehmung entpuppte sich der Brandstifter statt als Regimegegner der DDR als notorischer Krimineller. Der Mann hatte Zugang in die Theaterdoppelanlagegesucht, weil er diese als eine »factory« identifiziert hatte. Er war durch ein nicht verschlossenes Kippfenster eingestiegen, in der Hoffnung, in einem der Spinde Stullen zu finden, »weil ich Hunger hatte«. Da es sich aber um Spinde von Orchestermusikern handelte, hatte er seinen knurrende Magen mit Partituren nicht stillen können. Schlicht aus Frust war der Hungerleider zum Brandstifter mutiert. 

Als ich um vier Uhr früh den Tatort erreichte, fand ich den Komponisten John Cage verwirrt und verwaist am Bühneneingang auf seinen Koffern hocken. Just am Abend vorher hatte ich mit dem »Meister der Stille« im Restaurant Fundus über die Partitur zu seinem neuen Werk EUROPERAS 1 & 2 gesprochen. Feuerwehrmänner hatten den immer freundlich lächelnden Komponisten aus dem Opern-Etablissement für prominente Hausgäste aus dem dritten Stock an die frische Luft komplimentiert. In seiner Not auf eine neue Bleibe hoffend, fragte John Cage: »Wo ist Gary?« Mein Gott, Gary Bertini hatten wir ganz vergessen. Der ebenfalls sofort herbeigeeilte Oberbürgermeister ließ den Dirigenten mit seinem Dienstwagen aus Schwanheim zum Tatort holen. 

Oberbürgermeister Wolfram Brück berief ad hoc einen Krisenstab ein, dem die Intendanten Günther Rühle und Gary Bertini, der Technische Direktor Max von Vequel, der Bühnengeschäftsführer Günter Hampel sowie die beiden Dezernenten für Kultur und für Bau angehörten, um erste Entscheidungen zu treffen. Schon nach einer Stunde war klar, die Oper würde ins Schauspiel umziehen, weil es dort einen verwaisten Orchestergraben gab. Ein altruistischer Günther Rühle war einverstanden, dass das Schauspiel Gastrecht im leer stehenden Bockenheimer Straßenbahndepot genießen würde, falls uns die Uni und das Land das denkmalgeschützte Depotüberließen. Dank des Elans des Baudezernenten Hans-Erhard Haverkamp war die neue Spielstätte innerhalb vonnur sieben Wochen spielreif umgerüstet. Mit einer genialen Regieleistung von Peter Palitzsch als Gast wurde mit Marlowes LEBEN EDWARDS DES ZWEITEN VON ENGLAND die Eröffnung einer heute nicht mehr wegzudenkenden neuen Bühne gefeiert. Schon bald konnten in diesem fantastischen Ambiente stilbewusste, extravagante Inszenierungen wie Bob Wilsons »wunderwirkliche Theaterwelt« (Stadelmaier) oder Einar Schleefs neu erfundener FAUST I bewundert werden. 

Bereits wenige Tage nach dem Brand hatten sich eilfertige Investoren öffentlich mit dem Vorschlag zu Wort gemeldet, den »Luftraum« über dem Operngrundstück zu kaufen. Im Gegenzug versprachen sie, die Oper im unteren Bereich ihres geplanten Hochhauses auf ihre Kosten wiedererstehen zu lassen. Die Oper als buchstäbliche Untermieterin eines Büromonsters, welch entsetzlicher Gedanke! Außerdem hätte der Spiel betrieb sich um mindestens vier Jahre verzögert. Gegen diese Art merkantilen Eifers hatten wir es leicht, den Anfängen einer Subkulturalisierung zu wehren, zumal die Allianz-Versicherung die vollen Kosten des Wiederaufbaus zu übernehmen bereit war. 200 Millionen zahlte eine kulante Allianz für den Wiederaufbau des Opernhauses und damit auch für einen um zehn Meter aufgestockten Bühnenturm, in dessen Windschatten Eins-zu-eins-Probenräume sowohl für das Frankfurter Opern- und Museumsorchester als auch für das Forsythe-Tanztheater hinzu gewonnen wurden.

Erschienen in: Ein Haus für das Theater: 50 Jahre Städtische Bühnen Frankfurt am Main, Verlag Henschel, 2013